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Landtag, 14. Sitzung vom 24.04.2003, Wörtliches Protokoll  -  Seite 25 von 83

 

ausgearbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union Zustimmung der Staats- und Regierungschefs erlangte und diese Charta der Grundrechte zumindest - und dies kann nur ein erster Schritt sein - feierlich proklamiert wurde: nach der Einführung der gemeinsamen Währung ein weiterer wichtiger historischer Schritt zur politischen Vertiefung der Europäischen Union.

 

In einer eigenen Erklärung zur Zukunft der Union über die künftige Entwicklung wurde übereingekommen, spätestens ein Jahr nach dem Treffen in Nizza die weiteren Schritte angesichts der bevorstehenden Erweiterung sowie der notwendigen weiteren politischen Vertiefung zu vereinbaren. Im Dezember 2001 in Laeken beschlossen die Staats- und Regierungschefs, die Zukunft der Union in einer breit angelegten öffentlichen Debatte zu führen. Ein europäischer Konvent war demnach einzurichten, um ausgehend von den Fragen über die Zuständigkeit der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten, den Status der Charta der Grundrechte, die Vereinfachung der Verträge sowie die Rolle der nationalen Parlamente eine grundsätzliche Debatte über die weitere politische Vertiefung der Union zu führen. Damit begann ein neues Stück europäischer Verfassungsgeschichte.

 

Nach der Einheitlichen Europäischen Akte in den achtziger Jahren, den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza wurde damit die fünfte große Vertragsrevision in Angriff genommen. Insbesondere die beiden letzten großen Gipfel, Amsterdam und Nizza, hatten gezeigt, dass in wesentlichen Punkten, vor allem in Fragen der Handlungsfähigkeit und Fragen der institutionellen Reform der Union, nur noch minimale Ergebnisse erzielt werden konnten. Dies war ein Anzeichen dafür, dass die Methode der Regierungskonferenz an ihre Grenzen gestoßen ist und der politische Wille bislang gefehlt hat, über die Wirtschaftsunion hinaus den Grundstein für die politische Union zu legen.

 

Die berühmte Finalität der Europäischen Union, Gegenstand von unzähligen Europaräten im Jahr 2000, war im Verhandlungsmarathon an der Côte d' Azur plötzlich verschwunden. Der Gipfel von Nizza brachte ein für die alten wie auch für die zukünftigen neuen Mitglieder der Union enttäuschendes Ergebnis. Jedoch die Staats- und Regierungschefs ebneten den Weg für den "Post-Nizza-Prozess". Dabei geht es nicht um Feinjustierungen im politischen Räderwerk der Europäischen Union, sondern um eine Generalrevision. Mehr als 50 Jahre eines erfolgreichen europäischen Einigungsprozesses haben ein Gebilde geschaffen, das, so einer der Vizepräsidenten des Konvents, Giuliano Amato, dem einer gotischen Kathedrale gleicht. Verschiedene Baustile wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte neben- und übereinander angeordnet. Dabei ist ein imposantes Gebäude entstanden. Das Problem ist allerdings, dass der Kern des Projekts nur mehr schwer zu erkennen ist.

 

Worum geht es bei dieser "Generalrevision"? - Es geht um nicht mehr, allerdings auch um nicht weniger als um die Handlungsfähigkeit und damit um die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union im 21. Jahrhundert: Es geht um das Innenverhältnis im Zusammenschluss der einzelnen Mitglieder, die sich ja gemeinsam zu diesem historisch einmaligen Gebilde einer Union von Staaten zusammengeschlossen haben, um auf die allein auf staatlicher Ebene nicht mehr zu bewältigenden und zu lösenden Fragestellungen und Herausforderungen in einer sich zunehmend globalisierenden Welt gemeinsame Antworten zu finden. Es geht auch um die gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen im globalen Wettbewerb und - darauf lege ich besonderen Wert - im globalen Miteinander, im Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für die kommenden Generationen.

 

Meine Damen und Herren! Eine der wesentlichsten Fragen ist, in welcher Form wir das bereits gemeinsam Erreichte, den friedlichen Wiederaufbau Europas nach den schrecklichen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem europäischen Einigungswerk des Friedens und des Wohlstands, des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit, weiterführen wollen, und zwar weiterführen im Sinne eines Föderalismus freier Staaten, eines supranationalen föderalen Systems geteilter Herrschaft zwischen Zentralgewalt und konstituierenden Teilgewalten, eines Mehrebenensystems politischer Herrschaft, bei dem die Balance von Macht und Zuständigkeit eher sachgesetzlichen Notwendigkeiten als vorgegebenen Finalitätsmodellen folgt – ein Gedanke, den im Übrigen bereits Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" im Jahre 1795 angesprochen hat; eine gewisse Aktualität dieses Gedankens ist zweifelsohne durchaus gegeben.

 

Wenn wir uns diesem supranationalen Staatsgebilde mit dem Namen Europäische Union weiter annähern, ist angesichts der aktuellen Diskussion im und um den Konvent zur Ausarbeitung einer europäischen Verfassung die Frage zu stellen, wie es kam, dass wir gerade heute so intensiv über eine Verfassung für die Europäische Union nachdenken. Hiezu gibt es im Anschluss an meine bisherigen Ausführungen vier zentrale Antworten:

 

Erstens: Der bevorstehende Beitritt vorwiegend mittel- und osteuropäischer Staaten zur Europäischen Union stellt mit Nachdruck die Frage nach klar erkennbaren, eindeutig rechtlichen Grundlagen für die Identität und das Handeln der Union mit neuem Gewicht.

 

Zweitens erfordert dieser Beitritt dringend eine über die differenziert zu beurteilenden Errungenschaften der Verträge von Amsterdam und Nizza hinausgehende Anpassung der bereits vorhandenen rechtlichen Grundlagen der europäischen Integration an die gewachsenen Aufgaben sowie eine grundlegende Selbstvergewisserung über die Ziele und Werte der europäischen Integration.

 

Drittens ist die Verknüpfung der Verfassungsfrage mit der Frage nach der Finalität der Integration erstmalig überwunden. Denn nicht nur überzeugte Europäer und Europäerinnen, sondern auch und gerade so genannte Nationalisten wollen und fordern heute eine europäische Verfassung, auch wenn sie damit einzig die nationalen Kompetenzen vor befürchteten weiteren europäischen Zugriffen schützen wollen.

 

Schließlich, viertens, haben gerade die angeführten

 

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