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Gemeinderat, 29. Sitzung vom 18.10.2022, Wörtliches Protokoll  -  Seite 49 von 103

 

Historikern zusammengesetzt war, die versucht haben, es möglichst objektiv aufzuarbeiten. Wir sehen also eine Befassung mit einer historischen Materie durch Historiker. Was aber der Unterschied bei der Lueger-Kampagne ist, ist, dass versucht wird, die Geschichte, das Gestern für die politischen Ziele des Heute zu verwenden, und es ist eine Kampagne. Das ist damit argumentiert, weil wir eben keine Angriffe gegen andere belastete Persönlichkeiten dieser Stadt sehen, gegen einen Renner, gegen einen Tandler, gegen einen Reumann, gegen einen Karl Marx, der im Karl-Marx-Hof sehr prominent geehrt wird. Nein, wir sehen eine Zuspitzung auf einen bürgerlichen Bürgermeister, und dabei noch dazu eine unverhältnismäßige Fokussierung auf seine unschönsten Seiten, wobei ausgeblendet wird, erstens, dass Lueger als Person und als Politiker genauso komplex war wie jeder Mensch und jeder Politiker es ist. Zweitens wird seine Einbettung in einem desaströsen infernalen Zeitgeist ausgeblendet - ich komme darauf noch einmal zu sprechen. Und drittens wird auch ausgeblendet, dass es durchaus Zeitzeugen gab, die seine antisemitische, populistische Haltung durchaus eingeordnet haben. Ich nenne Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“, ich nenne Felix Salten, die mehr oder weniger zusammengefasst gesagt haben: Antisemit ja, Populist ja, bestreitet ja niemand, aber ein rhetorischer Antisemit, bis er das Bürgermeisteramt innehatte und ein Populist im Zeichen seiner Zeit.

 

Jetzt ist die Frage: Was machen wir mit diesem Zusatz „im Zeichen seiner Zeit“? Ist das eine Relativierung, ist es ein Persilschein für alle Mitläufer und Mittäter von sämtlichen Regimen? - Nein, ist es natürlich nicht. Aber es ist eine Anregung, dass man menschliches Handeln mit all seinen Schwächen und all seinen Unzulänglichkeiten sieht. Dazu gehört beispielsweise, dass man den einfachen Weg geht, dass man dem Zeitgeist nach dem Mund redet, dass man sich auf Kosten anderer erhöht, dass man die Folgen des eigenen Handelns nicht abschätzen kann. (GR Jörg Neumayer, MA: Bitte? Das ist ja nicht wahr!)

 

Und deswegen glaube ich, zusammenfassen zu können: Die erste Funktion einer guten, ausgewogenen Gedenkkultur ist es, sich in Demut immer selber zu hinterfragen, welchem Zeitgeist wir gerade hinterherlaufen. Ist es tatsächlich so, dass wir den Stein der Weisen gefunden haben und alles, was wir denken, alles, wie wir beurteilen und bewerten, korrekt ist? Oder kann es sein, dass auch wir eventuell irren, kann es sein, dass auch unser erhobener Zeigefinger - Kollegin Berner - von Fehlern und Irrtümern genauso behaftet ist, wie auch die Vorgängergenerationen Fehlern und Irrtümern anheimgefallen sind? (Beifall bei der ÖVP. - GR Jörg Neumayer, MA: Aus der Geschichte lernen heißt das!)

 

Ich bringe ein aktuelles Beispiel dafür, nämlich die Frage, wie mit aktuellen antisemitischen Strömungen umgegangen oder auch nicht umgegangen wird. Wir hatten die Pro-Palästinenser-Demos, die ich bereits genannt habe, bei denen zur Auslöschung Israels aufgerufen wurde. Ja, wo war denn da der große Aufschrei? Wo war denn da die Kampagne dagegen, die absolut notwendig und angebracht gewesen wäre? Wo war denn der große Aufschrei, als dokumentiert herausgekommen ist, dass in Wien zutiefst antisemitische Literatur in türkischen Buchhandlungen vertrieben wird? Wo war die Kampagne dagegen? Wo war der Protest? Wo waren die Demonstrationen? - Da war das große Schweigen, da war keine Kampagnisierung.

 

Ich meine, um genau diese Kurzsichtigkeit zu hinterfragen, brauchen wir eine gute Gedenkkultur, damit wir uns selber immer auf den Prüfstand stellen: Wo sind wir vielleicht auch selber zu feige, um aufzustehen? (Beifall bei der ÖVP sowie von GR Ing. Udo Guggenbichler, MSc und GRin Veronika Matiasek.)

 

Die zweite Funktion - es schließt ein bisschen an meine Vorrednerin an -: Wie gehen wir mit der Frage historischer Haftung um, also der Zuschreibung von Verantwortung für die Spätfolgen des eigenen Handelns? (Zwischenruf von GRin Mag. Ursula Berner, MA.) - Für die unmittelbaren Folgen, absolut, Kollegin Berner, Sie haben es eine unmittelbare Folge genannt, ich vermische hier nichts. Aber wie gehen wir mit Spätfolgen um?

 

Ich kann ein zweites historisches Beispiel dafür nennen, ja, ich habe den Karl-Marx-Hof erwähnt. Wie ist das eigentlich? Karl Marx, wäre der verantwortlich zu machen für die Opfer von Mao‘s Kulturrevolution, weil immerhin, Mao war Marxist? Gehört also auf den Karl-Marx-Hof nicht nur ein Kontextualisierungsschild wegen seines augenscheinlichen Antisemitismus, sondern auch ein Kontextualisierungsschild, weil er Millionen Todesopfer marxistischer und kommunistischer Regime zu verantworten hat? (GR Mag. Josef Taucher: Der Vergleich hinkt! Der Vergleich hinkt sehr!) Ist das tatsächlich ein korrekter Umgang mit Geschichte, meine Damen und Herren? Ich denke also, die zweite Funktion lautet: Abgrenzen und darüber diskutieren, was historische Verantwortung ist, ab wann man historische Fernverantwortung einschätzen kann, wie wir mit dieser Frage umgehen, welche Folgen das heute Fortschrittliche für morgen haben könnte.

 

Die dritte Funktion, die mir besonders wichtig ist, ist die Trennung zwischen Geschichte und tagespolitischen Partikularinteressen. Es ist - und ich betone das - vielfach so, dass Geschichte kein politisches Kampagnenwerkzeug für heutige politische Interessen sein darf. Geschichte darf kein politisches Kampagnenwerkzeug sein. Hannah Arendt hat das messerscharf analysiert, die Umschreibung, „rewriting“, Umschreibung von Geschichte ist das Zeichen eines totalitären Regimes, und so ist es tatsächlich auch. Die Darstellung des Gestern sollte objektiven Historikern überlassen bleiben und nicht einer ideologisierten Deutungshoheit. (Beifall bei der ÖVP.)

 

Aus diesem Grund würde ich sagen, die dritte Funktion einer guten Kontextualisierung heißt, es herauszuarbeiten, die positiven und negativen Seiten einer Person und sie im richtigen Verhältnis darzustellen. Ich halte also drei Funktionen fest, die wir in einer guten Gedenkkultur zuschreiben würden, nämlich erstens Reflexion des eigenen Zeitgeists, zweitens geordneter Umgang mit

 

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