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Gemeinderat, 51. Sitzung vom 24.03.2014, Wörtliches Protokoll  -  Seite 52 von 80

 

600 000 private Haushalte auf einen Schlag keinen Zugang mehr zum sozialen Wohnbau hatten. Ähnliches ist in Schweden passiert, in Frankreich ist das Verfahren noch anhängig. (GR Mag Wolfgang Jung: Sehen Sie: Dieses Problem hätten wir ohne EU gar nicht!)

 

Auch in Österreich wären die negativen Folgen beträchtlich. Weite Teile der Bevölkerung hätten keinen Zugang mehr zum leistbaren Wohnraum, und der Wohnbau insgesamt würde zurückgehen und als Konjunkturmotor ausfallen. – Mehr darüber morgen in der Aktuellen Stunde.

 

Der gesellschaftliche Zusammenhalt – und dieser zählt zu den Assets unserer ausgezeichneten Lebensqualität in Wien – würde verloren gehen, wenn es keine soziale Durchmischung in den Wohngebieten in Wien gäbe. Die Entstehung sozialer Ghettos wäre eine logische negative Auswirkung.

 

Europa hat sehr große und wichtige Aufgaben. Wir haben heute schon darüber gesprochen. Das Friedensprojekt der EU ist unersetzlich, und gerade deshalb müssen wir die negativen Entwicklungen aufzeigen und, wenn möglich, stoppen.

 

Wir wollen unsere Stadt so führen, wie wir das für richtig halten, bei der Bildung, bei der Daseinsvorsorge, beim sozialen Wohnbau. Und die Entscheidungen darüber sollen dort getroffen werden, wo sie am nächsten beim Bürger sind. – Ich zitiere damit unseren Bürgermeister, der sich auf den Vertrag vom Lissabon und die Subsidiarität beruft.

 

Aber lassen sie mich kurz die Geschichte des sozialen Wohnbaus in Wien rekapitulieren. 101 Jahre sind vergangen seit dem Spatenstich zu Wiens erstem Gemeindebau: Es war dies der Metzleinstaler Hof in Margareten, im 5. Bezirk. Heute, mehr als ein Jahrhundert später, gibt es knapp 2 000 Gemeindebauten in unserer Stadt. 220 000 soziale Wohnungen bedeuten ein Fünftel aller Wohnungen Wiens, und rund einem Drittel der Wiener Bevölkerung sind sie ein Zuhause.

 

Ein Ende ist zum Glück noch lange nicht erreicht. Es entstehen neue Wohnformen. Mit ganzen Stadtteilen wird diese Idee vom leistbaren Wohnen ins 21. Jahrhundert getragen. Der soziale Wohnbau ist ein Ur-Wiener Erfolg und er hat, wie so oft, seine Wurzeln natürlich in der Geschichte. Ich zitiere Wohnbaustadtrat Michael Ludwig: „Es gibt keine andere Stadt in Europa, die über eine derartige Kontinuität der sozialen Wohnungspolitik verfügt und diese auch nicht aufgegeben hat, als der Zeitgeist Neoliberalismus und Privatisierung diktierte. Die Stadt bekennt sich zu den Gemeindebauten und hat im Gegensatz zu vielen anderen Städten zu keinem Zeitpunkt einen Verkauf dieses kommunalen Eigentums in Erwägung gezogen, weil das der Spekulation und dem Steigen der Mieten massiv Vorschub leisten würde.“

 

Ich muss kurz zurückgehen zur Zuwanderungswelle aus den Kronländern Österreich-Ungarns nach Wien. Im Jahr 1910 ist die Bevölkerung in unserer Stadt schlagartig auf über 2 Millionen Einwohner gestiegen. Die Wohnsituation der Arbeiterklasse war unzumutbar. Die Mietzinse waren sehr hoch, es gab das Bettgeherunwesen, und das Elend wurde immer schlimmer.

 

Zunächst entstanden um 1900 in der Form von Werkswohnungen erste Ansätze kommunalen Wohnungsbaus, aber der Erste Weltkrieg hat diese Entwicklungen gebremst. 1917 haben fast drei Viertel aller Wiener in überbelegten Ein- oder Zweizimmerwohnungen gewohnt, und die k u k-Regierung war damals sogar gezwungen, die Familien von im Krieg stehenden Soldaten vor der Delogierung zu retten, weil sie den Zins nicht mehr zahlen konnten. Die Mieterschutzverordnung mit dem sogenannten Friedenszins, einem Mietzinsstopp, und eine Einschränkung des Kündigungsrechts wurden damals geschaffen. Damit wurden, eigentlich ungewollt, wesentliche Voraussetzungen für den sozialen Wohnbau geschaffen.

 

1919 wurde Wien nach der Gemeinderatswahl zur ersten sozialdemokratischen Millionenstadt weltweit. Die beiden Bürgermeister Jakob Reumann und Karl Seitz haben das Schlagwort vom „Roten Wien“ begründet.

 

Apropos: 1980 gab es auf der Biennale in den ehemaligen Salzmagazinen in Venedig zu diesem Thema eine sehr schöne Fotoausstellung „Vienna rossa. La politica residenziale nella Vienna socialista 1919 – 1933“.

 

Was hat es damals gegeben? – Zweckgebundene Wohnbauprogramme mit der Vision von Licht, Luft und Sonne, finanziert durch eine neue Wohnbausteuer. Natürlich wurde Finanzstadtrat Hugo Breitner von der Bourgeoisie wegen dieser zweckgebundenen Steuer nicht gerade geliebt. – Die Einrichtungen in diesen Wohnbauten waren Bäder, Büchereien, Kindergärten, Waschküchen, die der Gemeinschaft gedient haben, und exemplarisch erwähne ich auch die Einbauküche der Margarete Schütte-Lihotzky.

 

In den nächsten Jahren kamen dann insgesamt 66 000 Wohnungen dazu, zum Teil Superblocks wie der Karl-Marx-Hof, der sich über einen Kilometer Länge erstreckt, bis heute der größte Wohnbau der Welt. Ich nenne aber auch den Lassallehof im 2. Bezirk, den Rabenhof im 3. Bezirk, den Reumannhof im 5. Bezirk, den Viktor-Adler-Hof im 10. Bezirk, den Sandleitenhof im 16. Bezirk, die Wohnhausanlage auf dem Friedrich-Engels-Platz im 20. Bezirk, den Karl-Seitz-Hof im 21. Bezirk und den Goethehof im 22. Bezirk. Es entstanden aber auch Gemeindebauten in Salzburg, Linz, Innsbruck oder Graz.

 

„Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.“, hat Bürgermeister Karl Seitz 1930 anlässlich der Eröffnung des Karl-Marx-Hofes gesagt.

 

Dann kam das Jahr 1934, der Ständestaat und der Austrofaschismus, und alle Bauvorhaben waren beendet. Und auf die Dämmerung folgte die Dunkelheit: Anschluss, Diktatur, Tod. Wien taumelte dem Abgrund entgegen.

 

Der Zweite Weltkrieg hinterließ unsere Stadt in Schutt und Asche. Jede fünfte Wohnung war zerstört. Der Fehlbestand an Wohnungen wurde auf 117 000 beziffert. Bürgermeister Theodor Körner hat den Wiederaufbau eingeleitet. Aus Ziegelschutt und Beton entstand 1947 die Per-Albin-Hansson-Siedlung, wobei diese Namensgebung als Hommage und Dank an Schwedens finanzielle Hilfe zu verstehen ist. Das war damals schon europäische Nachbarschaftshilfe.

 

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