6. EU-Beihilfenrecht

6.3 Begriff der staatlichen Beihilfe – Art 107 AEUV

Das Verbot staatlicher Beihilfen:

Art 107 AEUV legt als Grundregel fest, dass staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar sind, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedsstaaten (MS) beeinträchtigen.

Staatliche Beihilfen sind demnach grundsätzlich verboten, wenn von ihnen für den Binnenmarkt potentiell schädliche Wirkungen ausgehen oder ausgehen könnten.

Der EuGH versteht den Beihilfenbegriff sehr weit und umfassend, weshalb auch Maßnahmen erfasst sein können, die auf den ersten Blick „unverdächtig“ erscheinen. Neben klassischen Geldzuwendungen (Förderungen) können auch die Übernahme von Bürgschaften, Verzicht auf Steuern oder der Erwerb von Wirtschaftsgütern zu marktunüblichen Preisen in den Bereich des Beihilfenverbots fallen, sofern die Voraussetzungen des Art 107 AEUV erfüllt sind.

Eine Beihilfe liegt vor, wenn alle fünf Elemente des Art 107 AEUV erfüllt sind:

  1. Gewährung aus staatlichen Mitteln

  2. Selektivität der Maßnahme – bestimmte Unternehmen oder Wirtschaftszweige

  3. Begünstigung von Unternehmen

  4. Wettbewerbsverzerrung

  5. Handelsbeeinträchtigung zwischen den MS

Beispiele für staatliche Beihilfen können unter anderem sein:

  • Förderungen/Zuschüsse/Subventionen

  • Steuer- und Abschreibungserleichterungen

  • Zinszuschüsse

  • Übernahme von Bürgschaften zu besonders günstigen Bedingungen

  • Unentgeltliche oder zu marktunüblichen Konditionen erfolgte Überlassung von Grundstücken und Gebäuden

  • Lieferung von Gütern oder Dienstleistungen zu marktunüblichen Bedingungen

  • Öffentlich-private Partnerschaften

  • Privatisierungen und Beteiligungen

  • Übernahme von Verlusten

  • Übernahme von Garantien

  • etc.

Leistungen aus staatlichen Mitteln, die nicht alle fünf Kriterien einer staatlichen Beihilfe nach Art 107 AEUV erfüllen, sind aus beihilfenrechtlicher Sicht unproblematisch und zulässig.

Ad 1. Gewährung aus staatlichen Mitteln:

Eine Beihilfe liegt nur vor, wenn sie aus staatlichen Mitteln (somit Steuermitteln) finanziert wird. Dabei sind alle Organisationseinheiten angesprochen, die eine Verfügungsgewalt über staatliche Mittel haben, z.B. Bund, Bundesländer oder Gemeinden. Auch privatrechtliche Rechtsträger sind erfasst, sofern sie beispielsweise als Unternehmen mit staatlichen Aufgaben betraut sind und deshalb über staatliche Mittel verfügen.

Dieses Element ist erfüllt, wenn ein Unternehmen einen Vorteil aus staatlichen Mitteln erhält. Dabei kann ein Vermögenstransfer auch im Verzicht auf Forderungen (z.B. einer Steuerschuld) oder in speziellen Steuervergünstigungen bestehen. Der EuGH nimmt hier ein weites Verständnis an.

Praxisbeispiele:

  • Die französische Post war Monopolunternehmen für Briefe und betrieb im liberalisierten Markt für Pakete die Tochtergesellschaft „Chronopost“. Die Post überließ Chronopost Büroräume und Infrastruktur zu einem sehr geringen Entgelt. Die Post verfügte laut EuGH über staatliche Mittel (Büros und Infrastruktur), die Chronopost zu marktunüblichen Konditionen zur Nutzung überlassen wurden. Es lag eine verbotene staatliche Beihilfe an Chronopost vor.

  • Die niederländische Regierung hatte beherrschenden Einfluss in den Organen eines Gasunternehmens, an dem sie auch die Aktienmehrheit hielt. Dieses Gasunternehmen gewährte Gartenbaubetrieben einen wirtschaftlich nicht gerechtfertigten Vorzugstarif für den Energiebezug, den andere Unternehmen nicht in Anspruch nehmen konnten. Dieser Vorzugstarif wurde in den von der niederländischen Regierung beherrschten Organen beschlossen. Durch diesen Vorzugstarif hat das Gasunternehmen auf einen unter üblichen wirtschaftlichen Bedingungen zu erwartenden Gewinn verzichtet, der dem Staat als Eigentümer zugeflossen wäre. Der Vorzugstarif wurde somit durch staatliche Mittel finanziert und es lag eine verbotene staatliche Beihilfe vor.

Ad 2. Selektivität der Maßnahme – bestimmte Unternehmen oder Wirtschaftszweige:

Eine staatliche Beihilfe kann nur dann verzerrende Wirkungen am Binnenmarkt hervorrufen, wenn sie bestimmten einzelnen Unternehmen oder bestimmten Wirtschaftszweigen im Vergleich zu allen anderen Wirtschaftsakteur*innen eine besondere Behandlung zukommen lässt. Kommen alle Wirtschaftsakteur*innen gleichermaßen in den Genuss einer (begünstigenden) Regelung, so liegt eine allgemeine Maßnahme vor, die nicht vom Beihilfenverbot erfasst ist. Auch die Selektivität einer Maßnahme ist laut EuGH weit zu verstehen.

Beispielsweise sah der EuGH die Selektivität als gegeben an, wenn:

  • eine Förderregelung einen großen Ermessenspielraum offen lässt, der für eine ungleichmäßige Anwendung auf die Unternehmen genutzt werden kann (die/der Fördergeber*in kann selbstständig festlegen, ab welchem maximalen Jahresumsatz eine Förderung nicht mehr zusteht. Der/dem Fördergeber*in steht es frei kleine und mittlere Unternehmen durch entsprechende Umsatzgrenzen zu bevorzugen);

  • Wirtschaftszweige mit hohem Frauenanteil dadurch begünstigt werden, dass Arbeitgeber*innenbeiträge zur Krankenversicherung für weibliche Arbeitnehmerinnen gesenkt werden;

  • Exportbeihilfen für alle Unternehmen eines Wirtschaftszweigs gewährt werden, der Großteil dieser Unternehmen aber ausschließlich für den Inlandsmarkt produziert. Dies führt zu einer Begünstigung der wenigen Exportunternehmen.

Ad 3. Begünstigung:

Das Beihilfenverbot erfasst ausschließlich selektive Begünstigungen an Unternehmen oder Wirtschaftszweige. Beihilfen an private Verbraucher*innen oder Haushalte sind grundsätzlich unbeachtlich, sofern die Maßnahme keine mittelbaren Auswirkungen hat, die eine Förderung eines bestimmten Unternehmens oder eines Wirtschaftszweigs darstellen.

Der Begriff des „Unternehmens“ ist laut EuGH sehr weit zu verstehen. Umfasst sind alle Organisationseinheiten unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Als „wirtschaftliche Tätigkeit“ ist jede Tätigkeit anzusehen, die darin besteht, Waren oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten, auch wenn keine Gewinnerzielungsabsicht (z.B. Non-Profit-Organisationen oder gemeinnützige Vereine) gegeben ist. Die Form der Organisationsstruktur eines Unternehmens spielt bei dieser Beurteilung keine Rolle. So können auch Betriebe, die Teil des Magistrats (oder einer anderen öffentlichen Körperschaft) sind, als Unternehmen qualifiziert werden, sofern diese Betriebe Leistungen auf dem Markt anbieten.

Eine Begünstigung liegt vor, wenn einzelne Unternehmen oder Wirtschaftszweige einen Vorteil aus staatlichen Mitteln erhalten, den vergleichbare Unternehmen unter marktüblichen Bedingungen nicht bekommen. Die begünstigten Unternehmen sind somit nach Gewährung der staatlichen Beihilfe im Wettbewerb bessergestellt als vergleichbare Unternehmen, die diese nicht erhalten haben.

Ein klassischer Fall einer Begünstigung ist gegeben, wenn ein Vermögenstransfer aus staatlichen Mitteln an bestimmte Unternehmen oder Wirtschaftszweige erfolgt und dieser Vermögenstransfer ohne Gegenleistung (z.B. Kaufpreis, Miete) bzw. mit einer marktunüblichen Gegenleistung (besonders niedriger Preis, symbolischer Mietbeitrag, Verkauf von Liegenschaften unter dem Marktwert etc.) erfolgt. Somit sind vom Beihilfenverbot Geschäftsbeziehungen (wie der Kauf von Büromöbeln durch die Stadt) nicht erfasst, sofern Leistung und Gegenleistung einem „normalen“ Marktaustausch entsprechen, bei dem die Wertigkeit von Leistung und Gegenleistung angemessen ist. Wird jedoch im Anschluss an ein solches marktübliches Geschäft das Unternehmen dadurch begünstigt, dass Forderungen nicht eingetrieben werden oder erlassen werden, kann hierin wieder eine staatliche Beihilfe gesehen werden.

Die EK hat zu diesem Aspekt und weiteren Themen eine Bekanntmachung veröffentlicht, in der sie ihre Position zu Fragen des Beihilfenrechts darlegt.

Ad 4. Wettbewerbsverzerrung:

Eine Wettbewerbsverzerrung liegt vor, wenn die aus staatlichen Mitteln gewährte Begünstigung die Stellung des begünstigten Unternehmens oder Wirtschaftszweigs im Vergleich zur Konkurrenz in einer Art und Weise verbessert, wie dies im Rahmen des ungestörten Wettbewerbs nicht möglich wäre. Es genügt schon, dass die fragliche Maßnahme den Wettbewerb zu verzerren droht, auf eine tatsächliche Verfälschung kommt es nicht an.

Der EuGH schließt in einigen Urteilen bereits aus dem Vorliegen einer Begünstigung ohne Weiteres auf eine Wettbewerbsverzerrung. In der Praxis wird bei Vorliegen einer begünstigenden Maßnahme, die selektiv Unternehmen oder Wirtschaftszweige erfasst, die (drohende) Wettbewerbsverzerrung als gegeben angenommen. Die EK akzeptiert deshalb auch regelmäßig keine Einwände, es läge keine wettbewerbsverzerrende Wirkung der staatlichen Beihilfe vor.

Ad 5. Handelsbeeinträchtigung zwischen den Mitgliedstaaten:

Wenn durch eine fragliche Maßnahme zusätzlich der Handel zwischen den MS beeinträchtigt wird oder eine solche Beeinträchtigung droht, liegt eine grundsätzlich verbotene staatliche Beihilfe vor. Der Handel umfasst dabei den gesamten Waren- und Dienstleistungsverkehr, der zwischen den MS stattfindet.

Vom Beihilfenverbot nicht erfasst sind jene Maßnahmen, die ausschließlich interne Auswirkungen auf einen MS haben. Eine Handelsbeeinträchtigung ist anzunehmen, wenn die wettbewerbsverzerrende Wirkung der Beihilfe dazu geeignet ist, dass die Ein- oder Ausfuhr von Waren und/oder Dienstleistungen für konkurrierende Unternehmen in anderen MS erschwert werden. Eine bloß mögliche Beeinträchtigung ist ausreichend, weil das Beihilfenverbot schon den potentiellen Wettbewerb zwischen Unternehmen schützen will. Eine staatliche Beihilfe kann nämlich auch dazu führen, dass ein am Markteintritt interessiertes Unternehmen aufgrund der Wettbewerbsverzerrung abgeschreckt wird und somit erst gar keine Konkurrenz entsteht.

Wird eine Wettbewerbsverzerrung bejaht, liegt zumeist auch eine zwischenstaatliche Handelsbeeinträchtigung vor. Ausnahmsweise können staatliche Beihilfen mit ausschließlich lokalen, regionalen oder auch nationalen Auswirkungen keine Handelsbeeinträchtigung herbeiführen. Die EK geht aber auch bei diesem Element von einem weiten Begriffsverständnis aus.

Vor diesem Hintergrund ist für die Stadt Wien, die in einem besonderen geografischen Naheverhältnis zu ihren Nachbarländern liegt, besonders leicht anzunehmen, dass wettbewerbsverzerrende Maßnahmen der Stadt eine Handelsbeeinträchtigung zur Folge haben können.

Praxisbeispiele:

  • Die EK nahm das Vorliegen einer Handelsbeeinträchtigung an, als eine bayrische Gemeinde in Grenznähe zu Österreich dem örtlichen Schwimmbad Infrastruktur günstig zur Verfügung stellte und die Infrastruktur modernisierte. Es könnten aus österreichischen Grenzgemeinden Gäste durch die verbesserte Infrastruktur angelockt werden und damit die Besucherzahl in grenznahen österreichischen Schwimmbädern beeinflusst werden. Somit konnte eine Handelsbeeinträchtigung zwischen diesen MS nicht ausgeschlossen werden.

  • In einem früheren, vergleichbaren deutschen Fall bezüglich eines örtlichen Schwimmbades in Nordrhein-Westfalen hatte die EK das Vorliegen einer Handelsbeeinträchtigung hingegen verneint. Die EK argumentierte, dass das örtliche Schwimmbad aufgrund des zu erwartenden Einzugsgebiets keine Gäste aus den Niederlanden anziehen werde.

In einzelnen Ausnahmefällen rufen Förderungen von Grundlagenforschung bei fehlender Konkurrenz oder Förderungen an ein unangefochtenes Monopolunternehmen am Binnenmarkt keine Handelsbeeinträchtigung hervor. Auch Beihilfen, die ausschließlich am lokalen, für ausländische Anbieter*innen uninteressanten Markt wirken und nur dort die Marktgewichte verschieben, wie etwa Förderungen für Nahversorger (Greißler), Klein- und Mittelbetriebe am lokalen Markt und Handwerksbetriebe, können ausnahmsweise keine Handelsbeeinträchtigung bewirken. Aufgrund der besonderen geografischen Lage der Stadt Wien ist bei Klärung dieser Frage jedoch besondere Vorsicht geboten.