4.3 Umyma El Jelede und Sicido Mekone, Interview: „Geh und bring einen Dolmetscher mit“ – Frauengesundheitszentrum FEM Süd
Alexandra Grasl-Akkilic
Frauen mit Fluchtgeschichte haben oft Lebensbedrohliches erlebt. Sollte „Flucht“ in die Anamnese einbezogen werden?
Mekonen: Viele Frauen geben nicht an, dass sie im Asylverfahren sind, es ist nicht relevant bei einer körperlichen Untersuchung. Es kann aber auch positiv sein, wenn die Ärzt*innen Bescheid wissen. Wenn eine Patientin ins Spital kommt, die eine Flucht hinter sich hat, hängt es davon ab, ob die Ärztin oder der Arzt dies in der Anamnese angibt. Man braucht viel Zeit für die Patientin und manchmal sind die Fachkräfte überfordert. In Krankenhäusern der Stadt Wien wird Videodolmetsch genützt. Doch bei frauenspezifischen Themen möchten die Frauen lieber eine dolmetschende Person vor Ort oder Google Translate.
El Jelede: Grundsätzlich fehlt interkulturelle Kompetenz im Gesundheitssystem. Die Frauen kommen an und kennen die Sprache noch nicht, sie kennen nicht den Unterschied zwischen Fach- und Hausärztin, sie wissen nicht, wann man die Rettung ruft oder ins Spital geht. Dazu kommt: Welche Gesundheitskonzepte, Religion und Kultur prägen die Frauen? Welche Krankheit wird als Krankheit gesehen, die vom Spital behandelt werden muss? Und welche Krankheit wird einfach als Teil des Frauenlebens gesehen? Einrichtungen wie FEM oder FEM Süd und andere unterstützen diese Frauen sehr – nicht nur sprachlich.
Ein weiteres Beispiel: Hat jemand Schmerzen, wird das immer auf psychische Probleme geschoben. Es wird angenommen, Migration und Flucht führen zu Trauma und das wiederum zu psychosomatischen Beschwerden. Ich glaube, in der Anamnese sollte ein Kapitel über Flucht enthalten sein: Dass ich im Spital gefragt werde, wie lange ich da bin, welche Sprachen ich kenne. Ich hätte gerne, dass jemand zumindest erklärt, wie die Untersuchung durchgeführt wird. Viele Patientinnen mit Fluchtgeschichte waren vorher nie im Spital und wissen nicht, wie es abläuft.
Mekonen: Im somalischen Kontext ist eine Operation ein großer Eingriff, auch wenn er nur fünfzehn Minuten dauert. Viele Frauen haben Angst, dass sie nicht mehr aus der Narkose aufwachen. Auf der Flucht haben sie von Organdiebstahl und Menschenhandel gehört. Manche sind alleine hier, sie haben Angst, dass ihnen etwas zustößt. Das Allerwichtigste, die Information, fehlt. Den Frauen sollte durch Aufklärung die Angst genommen werden.
Was empfinden eure Klientinnen in Ambulanzen und Ordinationen als schwierig?
El Jelede: Meistens beklagen sich die Frauen bei mir, dass ihr Arzt nicht einmal das Stethoskop in die Hand nimmt, um sie zu untersuchen. Als ich in meinem Land als Ärztin gearbeitet habe, untersuchte man gleich am Anfang die Person, um herauszufinden, was los ist. Niemand fragte zuerst: „Was fehlt dir?“
In afrikanischen Ländern sagen die Ärzt*innen bei schweren Erkrankungen nicht der Patientin direkt, dass sie Krebs hat, sondern den Angehörigen, damit sie es sanft der Betroffenen beibringen. Aber hier wird es ihr sofort mitgeteilt.
Mekonen: Es wäre gut, wenn Ärzt*innen schwierige Themen sensibel ansprechen. Eine empathische und kultursensible Gesprächsführung ist bei schwerwiegenden Diagnosen besonders wichtig. Die Behandlungsempfehlungen werden von den Patientinnen angenommen, vor allem, wenn die Behandlung Konsequenzen für ihre Fruchtbarkeit hat.
Laut Afrozensus 2020 nehmen deutsche Ärzt*innen die Beschwerden von Menschen mit afrikanischen Wurzeln nicht ernst. Werden eure Klientinnen im Gesundheitswesen diskriminiert?
El Jelede: Über Diskriminierung reden die Frauen oft, zum Beispiel wegen der Hautfarbe, der Religion oder des Kopftuchs. Wenn man die Sprache nicht kann, um sich verständlich zu machen, und wenn das klinische Personal keine Zeit hat, ist es besonders schwierig. Einer Schwangeren, die sich bei der Geburtsanmeldung im Spital nicht verständigen kann, wird gesagt: „Geh und bring einen Dolmetscher mit.“ Überall gibt es Formulare zum Ausfüllen, es wird zu schnell oder im Dialekt gesprochen. Diskriminierung besteht bei der Behandlung, Diagnose und Medikamentenverschreibung.
Was wünscht ihr euch für eure Klientinnen?
El Jelede: Interkulturelle Kompetenz sollte im Mittelpunkt stehen. Egal ob jemand Diabetes hat, eine Schilddrüsenerkrankung oder FGM – es ist wichtig, dass das Gesundheitssystem über die verschiedenen Krankheitskonzepte Bescheid weiß. Ein großes Anliegen wäre mir, dass Frauen mit chronischen Erkrankungen oder jene, die eine große Operation vor sich haben, zur Aufklärung in ein mehrsprachiges Gesundheitszentrum geschickt werden. Es ist wichtig, die Behandlungen erklärt zu bekommen. Ich habe oft Klientinnen, die nicht wissen, wie Medikamente einzunehmen sind und wie sie wirken. Wesentlich wären Zeit und Aufklärung in Muttersprache, um Frauen mit Fluchtgeschichte gut ins Gesundheitssystem zu holen.
Ich arbeite schon lange mit Frauen mit FGM, die Spitäler aus ganz Österreich zu mir schicken. Dann erkläre ich ihnen als Frau in ihrer Sprache eine Operation und die Alternativen. Das sollte systematisch angeboten werden, damit die Frau klar ihre Entscheidung treffen kann. Ohne Aufklärung in ihrer Sprache erfährt Sicidos Klientin nur: Mein Uterus wird entfernt – und aus. Man sollte besser alles genau erklären, damit die Frau selbst entscheiden kann, ob sie die Operation macht oder nicht. Ohne diese Aufklärung fühlen sich Frauen mit Fluchthintergrund vielleicht diskriminiert. Manchmal ist es aber nur ein „Ich versteh dich nicht, ich kann dir nicht mehr erklären, weil ich deine Sprache nicht spreche“.
Sollten Gesundheitseinrichtungen also stärker auf ihre Kommunikation achten, um Vertrauen aufzubauen?
El Jelede: Ja, warum akzeptiert eine Ordination nicht telefonische Übersetzung, wenn es kein Videoübersetzungssystem und keine muttersprachliche Mitarbeiterin gibt? Es gibt in Wien gebildete arabisch-, somalischsprachige und afrikanische Menschen, die in den Gesundheitseinrichtungen arbeiten könnten. Diese Ressource wird nicht genützt.
In der Inneren Medizin gibt es bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen bestimmte Untersuchungen, die man auch in einem dünnen Kleid oder Trainingsgewand machen könnte, anstatt sich ganz ausziehen zu müssen. Nicht weil ich Muslimin bin, sondern weil ich ein Mensch bin, möchte ich nicht nackt am Ergometer sitzen. Und das betrifft nicht nur Frauen mit Fluchtgeschichte, sondern alle.
Und bitte nehmt euer Stethoskop und untersucht die Menschen, anstatt nur zu fragen, was die Person hat, und die Symptome zusammenzuzählen – 1, 2, 3, aha, es handelt sich um diese Krankheit.
Mekonen: Es gibt immerhin Gesundheitsinfos und Erklärvideos in verschiedenen Sprachen. Es tut sich viel. Wir müssen aber kritisch anmerken, dass oft nur die Sprachen hellhäutiger Migrant*innen wie Türkisch, Bosnisch-Kroatisch angeboten werden und nicht zum Beispiel Arabisch, Somali, Farsi. Wenn in der Bevölkerung schon ein gewisser Prozentanteil diese Sprachen spricht, sollten auch kleinere Gruppen berücksichtigt werden. Grundsätzlich fehlt es an Zeit, die Ärzt*innen stehen unter Zeitdruck und sind massiv überlastet. Wir im Frauengesundheitszentrum versuchen, auch präventive medizinische Angebote den Frauen näherzubringen. Wir begleiten Frauengruppen zur Gesundenuntersuchung, damit sie diese einmal kennenlernen. Es wäre gut, gäbe es mehr Gesundheitszentren mit Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Muttersprache.
Ein FEM in jedem Krankenhaus?
El Jelede: Ich weiß, es ist ein Traum, aber hätten wir das, würden viele Frauen nicht erst zu spät eine Diagnose bekommen.
Umyma El Jelede studierte in Libyen (Tripolis) Medizin und war dort als Ärztin tätig. Für das Frauengesundheitszentrum FEM Süd baute Umyma El Jelede ab 2007 ein Beratungsangebot für Frauen aus FGM/C-betroffenen Ländern mit auf. Für ihr Engagement wurde sie mit dem MiA Award 2014 ausgezeichnet. Sie ist psychosoziale und Gesundheitsberaterin, FGM/C-Expertin und leitet unterschiedliche Projekte im FEM Süd. Sie hält Vorträge, Workshops und Fortbildungen für arabischsprachige und afrikanische Frauen und Mädchen. Für Fachkräfte der Medizin, Gesundheits- und Krankenpflege, Sozialarbeit und (Elementar-)Pädagogik, für Hebammen sowie für das Österreichische Bundesheer, Heeresspital Wien, führt sie FGM/C-Fort- und Weiterbildungen durch.
Sicido Mekonen ist Sozialpädagogin und arbeitet als psychosoziale Beraterin im Frauengesundheitszentrum FEM Süd. Sie leistet Awareness Building für Mädchen und Frauen zu den Themen Selbstbewusstsein, psychische Gesundheit und Gesundheitskompetenz sowie FGM und ist u. a. in Schulungen für Multiplikator*innen und Gesundheitsfachkräfte sowie in der aufsuchenden Communityarbeit tätig.
Alexandra Grasl-Akkilic ist stellvertretende Leiterin und Fachreferentin des Wiener Programms für Frauengesundheit.