4.4 Franziska Schlaffner: Barrieren geflüchteter Frauen in der Gesundheitsversorgung – Erfahrungen der Sozialmedizinischen Beratung der Diakonie
Die Fragen, mit denen Frauen die Sozialmedizinische Beratung aufsuchen, wirken im ersten Moment oft simpel. So wie Frau M. mit ihrer Frage: „Welche Medikamente nehme ich da eigentlich genau?“ Als Sozialmedizinische Beraterin sichte ich mit Unterstützung der Dolmetscherin die von Frau M. mitgebrachten Befundberichte, Behandlungspläne und Entlassungsbriefe. Diese wurden aufgrund von Frau M.s Fluchtroute teilweise auf Arabisch, Griechisch oder Deutsch verfasst. Auf meine Information an Frau M., dass laut dem Papier die 2017 durchgeführte Nierentransplantation der Grund für die lange Medikationsliste sei, entgegnet sie mit konsterniertem Blick zur Dolmetscherin: „Übersetzen Sie ihr: Österreich macht mich fertig. Ich hatte niemals eine Nierentransplantation.“
Wie kann es dazu kommen, dass ein Dokument fälschlicherweise eine Nierentransplantation auflistet und infolgedessen entsprechende Medikamente verordnet werden, obwohl dieser Eingriff nie stattgefunden hat? Die Beantwortung dieser Frage ist komplex.
Migrant*innen sind besonders hohen Erkrankungs- oder Be*Hinderungsrisiken ausgesetzt (Kuss 2009: 138). Als Frau geflüchtet zu sein, erhöht diese Risiken zusätzlich (Ebner/Groth 2009: 288). Wiener*innen mit Migrationsgeschichte schätzen ihren Gesundheitszustand vergleichsweise schlechter ein als Österreicher*innen ohne Migrationsgeschichte (Stadt Wien – Integration und Diversität 2020: 130). Das Narrativ über Asylsuchende als „extrem geschwächtes, verletzliches und traumatisiertes Opfer“ (Meurs et al. 2022: 57-58) möchte ich hier keinesfalls bestärken. Mein Beitrag setzt den Fokus auf die Barrieren, denen geflüchtete Frauen mit Erkrankung oder Be*Hinderung in Wien häufig gegenüberstehen.
Fest steht jedenfalls, dass Frau M. unzureichend bis gar nicht über die ihr diagnostizierten Erkrankungen und die darauf folgenden Behandlungspläne informiert wurde. Der Löwenanteil dieser Mangelinformation ist sicherlich den großen Sprachbarrieren zuzurechnen, mit denen Frau M. auf ihrer Fluchtroute und im Aufnahmeland Österreich in ihrer gesundheitlichen Versorgung konfrontiert ist. Teils massive Problemlagen entstehen aber auch dadurch, dass geflüchteten Frauen, insbesondere jenen, die erst seit kurzem in Österreich leben, kaum Orientierung im komplexen Gesundheitssystem geboten wird.
Um informierte Entscheidungen zu Therapiemöglichkeiten und Behandlungswegen treffen zu können, braucht es zuvor zwingend eine für die betroffene Person verständliche Aufklärung. Frau M. hätte über ihre gesundheitlichen Probleme informiert werden sollen, um sodann über allfällig schon durchgeführte Operationen und nun anstehende Maßnahmen zu sprechen. Nur so hätte die fehlerhafte Behandlung sofort gestoppt werden können. Das Recht auf – wenn nötig erstsprachliche – medizinische Aufklärungsgespräche ist in Österreich gesetzlich verankert (Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz 2021: 73). Dennoch gab ein Großteil befragter Ärzt*innen in Wien schon vor einigen Jahren an, sich immer wieder unsicher zu sein, ob ihre Patient*innen sprachlich alles verstanden hätten (Pöchhacker 2011: 171-172).
Wie gesundheitliche Versorgung in Erstsprache am besten erfolgen kann, darüber sind sich auch Expert*innen uneins. So werden zum Beispiel spezielle Versorgungszentren, die sowohl auf die Communitys als auch sprachlich zugeschnitten sind, gefordert bzw. wurden teilweise schon realisiert. Zusätzlich wird jedoch gefordert, dass das gesundheitliche Regelsystem für alle zugänglich ist (Hertner 2023: 105).
Viele der Frauen, die die Sozialmedizinische Beratung aufsuchen, sind zudem nicht unbedingt selbst erkrankt oder be*hindert. Sie sind die Hauptpflegepersonen für ihre Kinder, Partner*innen, Freund*innen oder Verwandten. Als wäre die Pflege und Betreuung naher An- und Zugehöriger nicht schon herausfordernd genug, gilt es noch dazu in einem fremden System alle benötigten Informationen einzuholen, den österreichischen Behördenschimmel zu reiten und Rechte einzufordern. Pensionsversicherungsanstalt, Rezeptgebührenbefreiung, Pflegebedarfsermittlung, Vertragsfahrtendienst, Arbeitsfähigkeitsprüfung, Heilbedarfsversorgung – Österreich macht fertig.
Literatur- und Quellenangaben
Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (Hrsg.) (2021): Gesundheit im Gesetz – Weiterentwicklungsideen im Public-Health-System anhand eines Ländervergleichs. Wien: Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
Ebner, K. / Groth, S. (2009): Frauen, Gesundheit und Migration. In: Rásky, Éva (Hrsg.): Gesundheit hat Bleiberecht – Migration und Gesundheit. Wien: facultas, 288-295
Hertner, L. (2023): Versorgung geflüchteter Menschen als „Sich-in-Beziehung-Setzen“ – Begriffsklärung, Schlüsselprinzipien und Spannungsfelder psychosozialer Praxis. In: Brandmaier, Maximiliane / Bräutigam, Barbara / Gahleitner, Silke Birgitta / Zimmermann, Dorothea (Hrsg.): Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 98-107
Kuss, B. (2009): „Healthy Inclusion“: Entwicklung von Empfehlungen für einen verbesserten Zugang von MigrantInnen zu Gesundheitsangeboten. In: Rásky, Éva (Hrsg.): Gesundheit hat Bleiberecht – Migration und Gesundheit. Wien: facultas, 135-151
Meurs, P. et al. (2022): Im Dickicht des Ankommens – Einblicke in die psychosoziale Begleitung von Geflüchteten. Gießen: Psychosozial-Verlag
Pöchhacker, F. (2011): Kulturelle und sprachliche Verständigung mit Nichtdeutschsprachigen in Gesundheitseinrichtungen. In: David, Matthias / Borde, Theda / Kentenich, Heribert (Hrsg.): Migration – Frauen – Gesundheit. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag, 155-176
Stadt Wien – Integration und Diversität (Hrsg.) (2020): Integrations- & Diversitätsmonitor, Wien: Magistrat der Stadt Wien
Franziska Schlaffner ist diplomierte Krankenpflegerin und Sozialarbeiterin. Derzeit ist sie als Teamleiterin der Sozialmedizinischen Beratung in der Frauenberatungsstelle des Diakonie Flüchtlingsdienstes tätig. Nach ihrem dualen Studium der Gesundheits- und Krankenpflege an der Hochschule der Angewandten Wissenschaften in Hamburg war sie in Wien als Pflegeperson in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung beschäftigt. Parallel schloss sie das berufsbegleitende Masterstudium der Klinischen Sozialarbeit an der Fachhochschule Campus Wien ab.