4. Gesundheitsversorgung

4.5 Theda Borde: Versorgungssituation geflüchteter Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt – Wie responsiv ist das Versorgungssystem?

Hintergrund

Migrations- und Fluchtbewegungen von Menschen sind globale Phänomene. Es ist davon auszugehen, dass die Industrieländer aufgrund der demografischen und ökonomischen Bedeutung der Zuwanderung wichtige Nachfrage- und Zielländer der Arbeitsmigration bleiben. Darüber hinaus ermöglichen internationale Konventionen und humanitäre Gründe zumindest einem Teil der Menschen aus aktuellen Kriegs- und Krisengebieten und politisch Verfolgten Zuflucht und Asyl in Europa. Der Anteil der Frauen und Mädchen variiert im Zeitverlauf und je nach Herkunftsregion und Altersgruppe. Zwischen Januar und März 2024 waren unter den Asylbewerber:innen in Deutschland etwa ein Drittel Frauen und Mädchen (Mediendienst Integration 2024).

Immigrant:innen und deren Nachkommen machen heute einen konstituierenden Anteil der Bevölkerung verschiedener europäischer Länder aus, was sich auch im Gesundheitswesen widerspiegelt. Allerdings stellt die zunehmende Diversität von Patient:innen und von Gesundheitspersonal für die Versorgung derzeit eine Herausforderung dar. So verdeutlichte ein Literaturreview, dass neben Sprach- und Kommunikationsbarrieren für Immigrant:innen, Geflüchtete und auch ethnische Minderheiten weitere potenzielle Barrieren zur Gesundheitsversorgung wirksam werden, die auf Einstellungen und Verhaltensweisen des Gesundheitspersonals zurückzuführen sind (Drewniak et al. 2017). Wenige Studien zur Versorgung rund um Schwangerschaft und Geburt zeigten, dass geflüchtete Frauen und das Gesundheitspersonal mit ungelösten Sprachbarrieren und unterschiedlichen Erwartungen aneinander konfrontiert sind (Henry et al. 2020; Kasper 2021). Inzwischen ist auch für Deutschland belegt, dass institutioneller und interpersonaler Rassismus in der Gesundheitsversorgung erlebt wird, der sich negativ auf die Versorgungsqualität auswirkt, zu Fehlbehandlungen, Ausschlüssen und Vertrauensverlust führt und die Gesundheit negativ beeinflusst (Lewicki 2021; DeZIM 2023).

Ziel- und Fragestellung

Im Rahmen unserer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Studie zur Versorgungssituation geflüchteter Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt (PROREF –Teilprojekt der Forschungsgruppe PH-LENS 2020-2023) gingen wir u. a. der Frage nach, wie gut die bestehenden Versorgungssysteme rund um Schwangerschaft und Geburt auf die Versorgung geflüchteter Frauen eingestellt sind.

Während in Deutschland der Anspruch auf Gesundheitsleistungen für Asylbewerber:innen in den ersten 36 Monaten auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände begrenzt ist, haben Asylsuchende nach § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes im Kontext von Schwangerschaft und Geburt von Beginn an einen Rechtsanspruch auf alle medizinischen Leistungen, wie z. B. Vorsorgeuntersuchungen, Geburtskosten und Hebammenhilfe. Im Zentrum des qualitativen Teils der PROREF-Studie, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen, stand daher die Frage, wie zugänglich die Versorgung vor, während und nach der Geburt eines Kindes ist und wie diese von geflüchteten Frauen und Gesundheitspersonal subjektiv erlebt wird.

Methodik

In die Befragung wurden Fachkräfte sowie geflüchtete Mütter in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen einbezogen. Insgesamt wurden 74 Fachkräfte (v. a. Hebammen, Familienhebammen, Gynäkolog:innen, Sozialarbeiterinnen), die in unterschiedlichen Arbeitskontexten stationär, ambulant oder aufsuchend tätig waren, anhand von leitfadenorientierten Video- oder Telefoninterviews befragt. Trotz der Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie gelang es unserem Projektteam in der Zeit von Mai 2020 bis Juni 2021, auch 48 geflüchtete Mütter ein bis neun Monate nach der Geburt eines Kindes persönlich in verschiedenen Sprachen – und bei Bedarf von qualifizierten Sprachmittlerinnen unterstützt – qualitativ zu interviewen. Die in die Studie einbezogenen Mütter kamen aus 19 verschiedenen Herkunftsländern, lebten im Durchschnitt seit drei Jahren in Deutschland in Gemeinschaftsunterkünften oder in eigenen Wohnungen und wiesen unterschiedliche Bildungsgrade auf. Alle Interviews wurden anhand der Framework-Analyse (Gale et al. 2013) vom PROREF-Forschungsteam ausgewertet.

Ausgewählte Ergebnisse

Die Analyse der Interviews verdeutlichte, dass geflüchtete und immigrierte Frauen und Familien keine homogene Gruppe sind, Flucht und Migration aber für alle zunächst eine Neuorientierung und einen Bruch mit vorher vorhandenen Kompetenzen, Ressourcen und Sicherheiten bedeutet. Denn die sprachliche Kommunikationsfähigkeit ist eingeschränkt, die Strukturen des Versorgungssystems sind schwer durchschaubar, Rechte und Ansprüche sind oft unbekannt und gewohnte soziale familiale Unterstützungsnetzwerke fehlen.

Prekäre Lebensbedingungen belasten die Gesundheit geflüchteter Frauen rund um die Geburt. Ein großer Teil der befragten Mütter berichtete über schwierige belastende Lebensbedingungen, die durch einen unsicheren Aufenthaltsstatus, das Leben in einer Gemeinschaftsunterkunft, bürokratische Hürden, Sprachbarrieren und Diskriminierungserfahrungen geprägt sind. Körperliche und psychische Beschwerden wie Schmerzen, Blutungen, Schlafprobleme, Stress, Sorgen um das Neugeborene, Angst, Hoffnungslosigkeit und Depression assoziierten die befragten Mütter direkt mit ihren aktuellen Lebensbedingungen. Diese Lebensrealitäten von schwangeren Frauen und Müttern in Deutschland stehen in gravierendem Gegensatz zu dem im nationalen Gesundheitsziel rund um die Geburt formulierten Ziel, dass Lebenswelten und Rahmenbedingungen rund um die Geburt gesundheitsförderlich zu gestalten sind (Kooperationsverbund gesundheitsziele.de 2017).

Viele Mütter äußerten Angst beim Kontakt mit der Gesundheitsversorgung aufgrund der Sprachbarriere. Um sich zu verständigen, organisierten sie eigene Lösungen, indem sie z. B. Freundinnen oder Ehepartner über ihr Telefon zuschalteten. Die Auswertung zeigte jedoch, dass diese Art der Sprachmittlung unzureichend ist. Denn die Frauen erhielten nicht alle Informationen, die sie für sich selbst und ihr Neugeborenes brauchten. Mütter berichteten, dass sie während Schwangerschaft und Geburt keine Fragen stellen konnten, keine Wahl hatten und sich ausgeliefert, alleingelassen und diskriminiert fühlten. Vorhandenes Wissen, Kompetenzen und Mitsprachepotenziale der geflüchteten Frauen wurden nicht in die Versorgung einbezogen.

Alle befragten Fachkräfte problematisierten Sprachbarrieren und betonten den Mangel an Sprachmittlung. Sie hoben weitere strukturelle Aspekte wie Zeit- und Personalmangel hervor, sodass sie geflüchteten Frauen nicht immer gerecht werden können. Fachkräfte befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen hohen professionellen Ansprüchen und pragmatischem Handeln. Individuelle Faktoren wie Wissen, Erfahrung, Haltung und Engagement haben einen Einfluss auf den Umgang mit Herausforderungen in der Versorgung geflüchteter Frauen.

Nur sehr wenige Mütter wurden ambulant von einer Hebamme betreut oder von einer Familienhebamme im Rahmen der Frühen Hilfen unterstützt. Wenn eine vertrauensvolle Beziehung zur Hebamme hergestellt wurde, bewerteten Mütter diese Unterstützung als sehr wertvoll. In einigen Fällen führten geringe Zufriedenheit und negative Erfahrungen mit der Hebammenversorgung zu einem Abbruch des Kontaktes. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass unzureichende Kommunikation zwischen den Versorgungsinstanzen den Zugang zu notwendigen Versorgungsangeboten sowie zu Geburtsurkunden für geflüchtete Frauen und Familien verhindert und verzögert (Patzelt et al. 2023; Engelhardt et al. 2022).

Schlussfolgerungen

Auf die Betreuung und Versorgung geflüchteter und neu zugewanderter Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt ist unser Versorgungssystem weder strukturell noch hinsichtlich der Qualifizierung des Personals ausreichend ausgerichtet. Es besteht Bedarf, das aktuelle und zukünftige Gesundheitspersonal in Ausbildung, Studium und Fortbildung so zu qualifizieren und auch die Strukturen so zu gestalten, dass gleich gute Zugänglichkeit, Information und Aufklärung sowie Versorgungsqualität für alle möglich sind und geschriebene Rechte in tatsächliche umgesetzt werden. Darüber hinaus gilt es, Strategien des Empowerments für geflüchtete Frauen und Familien in einer Zeit der Neuorientierung weiterzuentwickeln und Modelle guter Praxis zu verbreiten, um Zugänge zu erleichtern und die Selbstorganisation der Frauen zu ermöglichen.

Literatur- und Quellenangaben

DeZIM (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung) (2003): Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors. Rassismus und seine Symptome, bezogen unter: rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Rassismus_Symptome/Rassismus_und_seine_Symptome.pdf (Zugriff: 25.6.2024)

Drewniak, Daniel / Krones, Tanja / Wild, Verina (2017): Do attitudes and behavior of health care professionals exacerbate health care disparities among immigrant and ethnic minority groups? An integrative literature review. In: Int J Nurs Stud., 70/89-98, bezogen unter: doi.org/10.1016/j.ijnurstu.2017.02.015

Engelhardt, Martha / Gaudion, Mathilde / Kamhiye, Jasmin / Al Munjid, Razan / Borde, Theda (2022): Legalisiertes Othering bei der (Nicht-)Ausstellung von Geburtsurkunden geflüchteter Kinder. In: Migration und Soziale Arbeit, 4/315-326

Gale, Nicola / Heath, Gemma / Cameron, Elaine / Rashid, Sabina / Rewood, Sabi (2013): Using the framework method for the analysis of qualitative data in multi-disciplinary health research. In: BMC Medical Research Methodology, 13/117, bezogen unter: biomedcentral.com/1471-2288/13/117 (Zugriff: 6.7.2024)

Henry, Julia / Beruf, Christian / Fischer, Thomas (2020): Access to Health Care for Pregnant Arabic-Speaking Refugee Women and Mothers in Germany. In: Qualitative Health Research, 30/3/437-447, bezogen unter: doi.org/10.1177/1049732319873620

Kasper, Anne (2021): Die geburtshilfliche Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung. Eine qualitative Untersuchung zum professionellen Handeln geburtshilflicher Akteur*innen. Wiesbaden: Springer, bezogen unter: doi.org/10.1007/978-3-658-33413-0

Kooperationsverbund gesundheitsziele.de (2017): Nationales Gesundheitsziel rund um die Geburt, bezogen unter: bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/nationales-gesundheitsziel-gesundheit-rund-um-die-geburt (Zugriff: 25.6.2024)

Lewicki, Aleksandra (2021): Gesundheit. In: Merx, Andreas / Lewicki, Aleksandra / Schlenzka, Nathalie / Vogel, Katrin: Diskriminierungsrisiken und Handlungspotenziale im Umgang mit kultureller, sozioökonomischer und religiöser Diversität. Ein Gutachten mit Empfehlungen für die Praxis. Essen: Stiftung Mercator, 68-83, bezogen unter: stiftung-mercator.de/de/publikationen/diskriminierungsrisiken-und-handlungspotenziale-im-umgang-mit-kultureller-soziooekonomischer-und-religioeser-diversitaet (Zugriff: 25.6.2024)

Mediendienst Integration (2024): Zahlen und Fakten, bezogen unter: mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/zahl-der-fluechtlinge.html (Zugriff: 6.7.2024)

Patzelt, Lisa / Engelhardt, Martha / Borde, Theda (2023): Perspektiven von Familienhebammen zur Versorgung geflüchteter Frauen und Familien. In: Public Health Forum, 31/2/113-115

Theda Borde ist Politologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Von 2004 bis 2023 war sie Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin, die sie von 2010 bis 2014 als Rektorin leitete. In den 1990er-Jahren war sie in der sozialen Arbeit mit Immigrantinnen tätig, bevor sie 1996 an die Charité Berlin wechselte und die bis heute aktive Forschungsgruppe „Migration und Gesundheit“ mitbegründete. Seit 2023 leitet sie zusammen mit Jalid Sehouli das Projekt „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“ an der Charité Berlin.