6.2 Sieglinde Rosenberger: Einstellungen zu Geflüchteten – Von Hilfe und Unterstützung bis Distanz und Ablehnung
Flucht
Flucht hat für Geflüchtete viele Gesichter: Gewalt, Krieg und Verfolgung, Schutz, aber auch Bruch mit dem bisherigen Leben, Hoffnungen und Wünschen. Hannah Arendt – sie ist selbst von Deutschland in die USA geflüchtet – dazu: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein …“ (Arendt 1943/2016: 10)
Diese Verlust-Realitäten schlagen sich im politisch-medialen Diskurs kaum nieder. Im Gegenteil, Anti-Migrationsparteien mobilisieren mit Forderungen nach Externalisierung von Asylverfahren, Abschottung und Rückführung. Und es sind diese Themen, die für bestimmte Gruppen auch wahlentscheidend sind (Krastev/Leonard 2024). Dennoch sind die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten insgesamt weit weniger ablehnend, als es die politische Debatte nahelegen würde. Menschen mit Fluchterfahrung werden nicht als homogene Gruppe wahrgenommen, sondern die Haltungen und Einschätzungen variieren je nach geografischer Herkunft, Fluchtgründen, kultureller Nähe und Religion der Schutzsuchenden. Entlang der Aufenthaltstitel, je nachdem, ob es sich um Asyl, Familiennachzug oder Vertriebenenstatus handelt, wird Geflüchteten mit Hilfe und Unterstützung bzw. mit Distanz und Ablehnung begegnet.
Die folgenden Ausführungen beleuchten entlang der Aufenthaltstitel Bilder über und Narrative zu Geflüchteten.
Asyl und Familiennachzug: Distanz und Ablehnung
Die individuellen Asylanträge sind in Österreich zwischen Frauen und Männern äußerst ungleich verteilt. Die Asylstatistiken des Innenministeriums zeigen, dass im Jahre 2015 28 Prozent der Asylanträge von Frauen gestellt wurden; der weibliche Anteil ging 2023 weiter zurück (Bundesministerium für Inneres 2024). Zudem erfolgten nach Frontex-Berichten im Jahre 2023 etwa 80 Prozent der irregulären Einreisen nach Europa von Männern, insbesondere von Männern aus Syrien (Tagesspiegel 2024). Diese Zahlen erklären, weshalb medial und politisch Flucht männlich konnotiert ist. Mehr noch: Der politische Diskurs verbindet die Präsenz von männlichen Geflüchteten mit Kriminalität, mit Straftaten wie körperlicher Gewalt und sexuellen Übergriffen, etwa den Ausschreitungen in der Silvesternacht 2020 in Köln, oder mit wiederholten Gewaltmeldungen über einzelne Wiener Plätze. So entsteht das Bild der gefährlichen migrantischen Männlichkeit.
Die Wahrnehmung, Flucht ist männlich, stimmt mit den Zahlen nur teils überein. Wenn alle rechtlichen Schutzformen berücksichtigt werden, ist sowohl in Österreich als auch weltweit die Hälfte aller Geflüchteten weiblich. Dieses Faktum ist auf Familiennachzug und neuerdings auf Geflüchtete aus der Ukraine zurückzuführen. Beim Familiennachzug handelt es sich meist um Ehefrauen und minderjährige Kinder von bereits hier Asylberechtigten.
Asylwerber:innen wie auch Personen, die über den Familiennachzug einreisen, kommen überwiegend aus muslimischen Ländern. Repräsentative Umfragen zu Einstellungen machen erhebliche Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Muslim:innen und Asylwerber:innen deutlich. Diesen Gruppen begegnet ein Drittel der Bevölkerung mit Distanz und Ablehnung. So vertritt ein beträchtlicher Teil die Meinung, dass die Rechte von Muslimen eingeschränkt werden sollten. Österreich liegt in der ablehnenden Haltung gegenüber Muslim:innen, gemeinsam mit Ungarn, im europäischen Spitzenfeld (Hofmann 2019: 279).
Geflüchtete Frauen, ihre Probleme beim Ankommen, ihre gebrochenen biografischen Verläufe und ihre alltäglichen Lebensrealitäten bekommen wenig Aufmerksamkeit. Medial und politisch interessant hingegen ist die Darstellung von Frauen als die „Anderen“ aufgrund von Kleidung und Kopftuch. Der Scheinwerfer erreicht Frauen mit Fluchterfahrung auch als Opfer von Gewalt im sozialen, patriarchalisch geprägten Nahbereich (Zwangsheirat, Partnergewalt). Gewalt wird in diesem Falle meist als Gewalt der „Anderen“ kommuniziert, nicht selten verbunden mit der Ablehnung von Migration und Flucht überhaupt (Standke-Erdmann et al. 2022).
Ukrainische Vertriebene: Hohe Zustimmung und Zufriedenheit
Der Angriffskrieg Russlands verursachte in Europa die größte Fluchtwelle nach 1945 (ca. vier Millionen Menschen). In Österreich kommen fast zwei Drittel aller Personen, die 2022 und 2023 in der Grundversorgung lebten, aus der Ukraine (Gahleitner-Gertz 2024). Betroffen sind überwiegend Frauen und Kinder, teils auch ältere Personen. Die EU-Massenzustrom-Richtlinie öffnet den Zugang zum Arbeitsmarkt und ermöglicht eine flexible Wohnortwahl. Diese Bestimmungen geben Ukrainerinnen mehr Handlungsmacht, als etwa Asylwerberinnen sie besitzen.
Die Einstellungen gegenüber Vertriebenen (österreichische Bezeichnung für Geflüchtete mit ukrainischer Staatsangehörigkeit) sind überwiegend positiv. Die Aufnahmebereitschaft und das zivilgesellschaftliche Engagement, wie etwa bei der Wohnungssuche, waren und sind groß. Zu Jahresbeginn 2023 meinten mehr als zwei Drittel der Befragten, dass die Aufnahme von Kriegsvertriebenen eine Aufgabe Österreichs sei. Das Zusammenleben mit den Ukrainerinnen und Ukrainern beurteilten 65 Prozent der befragten Bevölkerung als sehr gut oder gut (Öffentliche Sicherheit 2023). Im Vergleich dazu lehnten im Jahre 2020 mehr als 50 Prozent der befragten Bevölkerung die Aufnahme von Geflüchteten aus griechischen Flüchtlingslagern ab (Bacher 2020). Die positive Willkommensstimmung gegenüber ukrainischen Vertriebenen schlägt sich auf der emotionalen Seite der Vertriebenen nieder. In Befragungen sprechen ukrainische Vertriebene von Sicherheit, Wohlbefinden und Zufriedenheit mit der Fluchtsituation (Rosenberger/Lazareva 2023). Eine Studie des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) aus 2023 deutet an, dass sich fast alle Befragten in Österreich sicher und willkommen fühlen, ein großer Teil fühlt sich auch gut umsorgt.
Vorurteile, Stereotype und Diskriminierung
Negative Einstellungen und Vorurteile können sich in Diskriminierung beim Zugang zu gesellschaftlichen und ökonomischen Leistungen und Gütern niederschlagen. In diesem Kontext ist die niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Fluchterfahrung, sowohl im Vergleich mit geflüchteten Männern als auch mit der weiblichen Bevölkerung ohne Fluchterfahrung, auffällig. Nach dem Integrationsmonitor der Stadt Wien sind Frauen mit Migrationshintergrund und Bildungsabschluss aus einem Drittstaat jene Gruppe, die am seltensten erwerbstätig ist (Stadt Wien – Integration und Diversität 2023). Geschlechtsspezifische und/oder rassistisch bedingte Diskriminierungen aufgrund von Kopftuch, Herkunft, Nationalität, Sprache tragen zu dieser Situation bei. Daneben wirken Hürden wie fehlende Anerkennung von Abschlüssen, ungeklärter/zeitlich limitierter Aufenthaltstitel, Zuständigkeit für Sorge- und Familienarbeit, geringe Berufserfahrung, da sie in den Herkunftsländern seltener beruflich tätig waren als Männer, ebenso wie ein konservatives, traditionelles Familienbild des Herkunftsmilieus (Perchinig/Perumadan 2022).
Entgegen den Erwartungen ist auch die Erwerbstätigkeitsrate bei geflüchteten Ukrainerinnen bislang niedrig. Dies, obwohl sie meist hohe formale Ausbildungen und Berufserfahrungen mitbringen und die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die Einstellungen der Bevölkerung günstiger sind. Frauenspezifische Gründe, wie Sorgearbeit, aber auch die Hoffnung auf Rückkehr dürften hier ausschlaggebend sein.
Zusammenfassung
Die Haltung der österreichischen Bevölkerung gegenüber Menschen mit Fluchterfahrung ist nicht per se negativ, sie ist vielmehr gemischt. Sie reicht von Hilfe und Unterstützung bis zu Diskriminierung und Ablehnung. Die Erklärungen für diese Bandbreite liegen bei (rassistisch) wahrgenommenen Charakteristika der Geflüchteten ebenso wie bei unterschiedlichen Fluchtgründen.
Der günstigere rechtliche Rahmen für Personen ukrainischer Staatsbürgerschaft geht Hand in Hand mit positiveren Einstellungen und Erfahrungen auf beiden Seiten. Wichtig dabei ist zu berücksichtigen, dass die individuell vorgenommene Differenzierung nach kultureller/geografischer Nähe auch das Resultat von politischen Bildern und Narrativen ist – Bilder und Narrative über Geflüchtete sind sowohl zum Zwecke der Abgrenzung und Ausgrenzung als auch der Unterstützung und Aufnahmebereitschaft politisch mobilisierbar.
Literatur- und Quellenangaben
Arendt, Hannah (1943/2016): Wir Flüchtlinge. Stuttgart: Reclam
Bacher, Johann (2020): Ablehnende Haltung der Österreicher*innen zu Flucht und Asyl. Corona-Blog des Austrian Corona Panel Project 62, Universität Wien, bezogen unter: viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog62 (Zugriff: 28.5.2024)
Bundesministerium für Inneres (2024): Asyl-Statistik 2023, bezogen unter: bmi.gv.at/301/Statistiken/files/Jahresstatistiken/Asylstatistik_Jahresstatistik_2023_20240325.pdf (Zugriff: 28.5.2024)
Gahleitner-Gertz, Lukas (2024): Halbe-Halbe in der Grundversorgung, 22.3., bezogen unter: asyl.at/de/wir-informieren/dossiers/halbe/halbe-in-der-grundversorgung (Zugriff: 28.5.2024)
Hofmann, Julia (2019): Einstellungen und Vorurteile in Bezug auf Migration sowie Migrantinnen und Migranten in Österreich. In: Haller, Max / Muckenhuber, Johanna (Hrsg.): Die Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich. Wiesbaden: Springer VS, 271-293
Krastev, Ivan / Leonard, Mark (2024): A new political map: Getting the European Parliament election right. Policy Brief, 21.3., bezogen unter: ecfr.eu/publication/getting-the-european-parliament-election-right/#:~:text=The%20immigration%20tribe%20is%20disproportionately,biggest%20in%20Spain%20and%20Romania (Zugriff: 28.5.2024)
Öffentliche Sicherheit (2023): Stimmungsbild Ukraine, 7-8/35-36
Österreichischer Integrationsfonds (Hrsg.) (2023): Aktuelle Situation und Zukunftsperspektiven von Ukraine-Vertriebenen in Österreich. Wien: ÖIF
Perchinig, Bernhard / Perumadan, Jimy (2022): Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen in Österreich, Deutschland und Norwegen. Forschungsbericht. Wien: International Centre for Migration Policy Development
Rosenberger, Sieglinde / Lazareva, Anna (2022): „Ich wollte auf Urlaub und nicht als Geflüchtete nach Österreich kommen.“ Vertriebene Ukrainerinnen in Wien. Forschungsbericht. Wien: Universität Wien
Stadt Wien – Integration und Diversität (Hrsg.) (2023): 6. Wiener Integrations- und Diversitätsmonitor, bezogen unter: wien.gv.at/menschen/integration/daten-fakten/monitoring.html (Zugriff: 15.6.2024)
Standke-Erdmann, Madita / Pieper, Milena / Rosenberger, Sieglinde (2022): Countering “Their” Violence: Framing Gendered Violence Against Women Migrants in Austria. In: Freedman, Jane / Sahraoui, Nina / Tastsoglou, Eva (Hrsg.): Gender-Based Violence in Migration. Cham: Palgrave Macmillan, bezogen unter: doi.org/10.1007/978-3-031-07929-0_3
Tagesspiegel (2024): 80 Prozent Männer: Frontex meldet höchste Zahl irregulärer Migration, 16.1., bezogen unter: tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/80-prozent-manner-frontex-meldet-hochste-zahl-irregularer-migration-11059948.html (Zugriff: 28.5.2024)
Sieglinde Rosenberger ist Universitätsprofessorin i. R. für Politikwissenschaft/Universität Wien. Von 2017 bis 2023 war sie Mitglied im Sachverständigenrat Migration und Integration in Berlin. Sie ist Mitglied des W.I.R/Wiener Integrationsrats. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration und Integration, Asyl, Proteste, politische Partizipation sowie Rechtspopulismus. Ausgewählte Publikation: „Integration erwünscht? Österreichs Integrationspolitik zwischen Fördern, Fordern und Verhindern“ (Wien 2020, gemeinsam mit Oliver Gruber).