5.1 Kathrin Braun und Tobias Spöri: Politische Partizipation und Teilhabe – Herausforderungen, Chancen und Perspektiven
Demokratie ist im Wandel – das lässt sich global, aber auch lokal beobachten. In Wien hat sich in den letzten Jahren die Wohnbevölkerung stark verändert: Mehr als ein Drittel hat keinen österreichischen Pass und ein Großteil der seit 2014 aus Drittstaaten nach Wien gekommenen Menschen hat Fluchterfahrung. Für sie war die Teilnahme an demokratischen Prozessen und die Möglichkeit zur aktiven Beteiligung an Politik und Gesellschaft im Herkunftsland nicht selbstverständlich, doch auch in Österreich angekommen, ist das Wahlrecht für viele in weiter Ferne.
Politische Beteiligung beschränkt sich nicht auf das Wahlrecht allein, nichtformale Partizipationsformen sind nicht an die Staatsbürgerschaft gekoppelt und stehen allen offen. Wie die politische Beteiligung von Frauen mit Fluchthintergrund jedoch tatsächlich stattfindet, ist ein weitgehend unerforschtes Phänomen. In der zwischen September und Dezember 2023 durchgeführten quantitativen und partizipativ angelegten Studie „Inclusive Districts of Democracy. Politische Beteiligung von Menschen mit Fluchtgeschichte in Wien“ des Vereins Fremde werden Freunde und der Universität Wien zeigte sich, dass sich ein genauerer Blick in das demokratische Verständnis, politische Interesse und Partizipationsverhalten von Frauen mit Fluchtgeschichte lohnt (Braun/Spöri 2024).
Um zu verstehen, wie und warum sich Frauen mit Fluchtgeschichte (nicht) in Österreich beteiligen, ist das Wissen um politisches Interesse und Vertrauen in Politiker:innen und demokratische Institutionen unerlässlich. In Wien genießt das größte Vertrauen die Polizei (71 %), gefolgt von staatlichen Behörden (49 %) und Gerichten (48 %). Dem Wiener Bürgermeister vertraut etwa die Hälfte (49 %), während generell Politiker:innen in Österreich nur sehr niedrige Vertrauenswerte erfahren (24 %). Die Entwicklung des Vertrauens im Hinblick auf die Aufenthaltsdauer in Österreich zeigt ein spannendes Bild, denn die Dauer des Aufenthalts wirkt sich negativ auf das Vertrauen aus, sprich je länger die Menschen in Österreich sind, desto weniger vertrauen sie demokratischen Institutionen und Politiker:innen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass Frauen aus undemokratischen Herkunftsländern mit (zu) hohen Erwartungen an Politik(er:innen) nach Österreich kommen und sie einen Vertrauensvorschuss gewähren. Dieser Vertrauenswert passt sich dann im Verlauf des Aufenthalts an den Wert der österreichischen Durchschnittsbevölkerung an (SORA 2023).
Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung und den kolportierten Klischees interessieren sich Frauen mit Fluchtgeschichte sowohl für Politik in Österreich als auch im Herkunftsland. Besonders relevante Themen in Wien sind Wohn-, Bildungs- und Sozialpolitik. Auch in Bezug auf das politische Interesse zeigt sich im zeitlichen Verlauf eine Anpassung an die österreichische Gesamtbevölkerung, hier jedoch mit positiver Tendenz: Jene Frauen, die am längsten da sind, haben das größte Interesse an Politik. Wichtiger noch als die Aufenthaltsdauer stellt sich jedoch die österreichische Staatsbürgerschaft dar: Das größte Interesse besteht bei jenen Frauen, die diese bereits erhalten oder beantragt haben.
Politische Beteiligung wird im Idealfall im Laufe des Lebens erlernt und Bürger:innen durchlaufen die „Schule der Demokratie“ (Barber 1994). Durch politisches Engagement werden demokratisches Handeln und demokratische Werte gebildet und gestärkt, doch fehlende politische Sozialisierung und mangelnde Sicherheit oder sogar politische Verfolgung im Herkunftsland können den Prozess hemmen.
Niederschwellige politische Bildung anbieten
Mangelnde Sicherheit im Herkunftsland war für die meisten Frauen ausschlaggebender Fluchtgrund nach Europa und mit nur 8 % der Befragten führte eine Minderheit an, dass es sicher sei, sich politisch im eigenen Herkunftsland zu beteiligen. Die Sicherheit in Österreich im Hinblick auf politische Beteiligung wird deutlich besser bewertet. 38 % gaben an, dass es sicher ist, sich in Österreich politisch zu beteiligen, doch nur 11 % der Befragten empfinden es „leicht“ oder „eher leicht“, am politischen Geschehen in Wien teilzuhaben. Die Teilhabe wird von Frauen in der Umfrage als deutlich schlechter eingeschätzt als von Männern, wo die Zustimmung bei 26 % lag. Noch deutlicher ist der Geschlechterunterschied in Bezug auf das politische Wissen: Frauen geben wesentlich häufiger an, dass politische Inhalte und Fragen schwer für sie zu verstehen sind. Niederschwelliges und zielgruppengerechtes Angebot der politischen Bildung kann hier Abhilfe schaffen und jene Frauen unterstützen, die Interesse an Partizipation haben, wo Wissen oder Anlaufstellen aber fehlen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen können hier ansetzen und spielen seit 2015 vor allem für Menschen mit Fluchthintergrund eine zentrale Rolle (Simsa 2016). Neben Bildungsmöglichkeiten können sie auch erste Anlaufstelle für Beteiligungsprozesse darstellen: 30 % der befragten Frauen waren bereits ehrenamtlich oder in der Nachbarschaftshilfe aktiv, und in Hintergrundgesprächen mit Frauen mit Fluchtgeschichte betonten diese die für sie positive Rolle und die Relevanz von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Generell zeigt sich, dass niederschwellige und unkonventionelle Beteiligungsformen wie etwa die Teilnahme an Demonstrationen oder das Unterzeichnen von Petitionen von knapp einem Viertel ausgeübt wurden. Formale Partizipationsformen hingegen – wie das Engagement innerhalb einer Partei oder die Kontaktaufnahme mit österreichischen Politiker:innen – wurden nur von einer kleinen Gruppe wahrgenommen (5 %). Während sich der Gender Gap bei politischen Beteiligungsformen in Westeuropa zunehmend schließt (European Parliament 2023), ist er bei Frauen mit Fluchtgeschichte noch deutlich ausgeprägt: Männer partizipieren in der durchgeführten Studie über alle Beteiligungsformen hinweg mehr als Frauen.
Fehlende Diversität in politischen Parteien senkt Partizipationsbereitschaft
Im Hinblick auf Partizipation ist es auch wichtig zu verstehen, was die Gründe für eine politische Nichtbeteiligung sind. Hier zeigt sich, dass die Gründe der Frauen mit Fluchtgeschichte jenen der generellen Bevölkerung ähneln: Fehlende Zeit oder fehlendes Interesse sowie mangelnde Selbstwirksamkeit wurden als Hauptgründe genannt. Gerade am Thema der politischen Selbstwirksamkeit kann in politischen Bildungsangeboten angesetzt werden, um Menschen die eigene Relevanz in der Gesellschaft zu verdeutlichen und sie zu überzeugen, dass sie Veränderungen in politischen Angelegenheiten herbeiführen können.
Denn ein entscheidender Faktor für die Beteiligung ist das bisherige Beteiligungsverhalten: Personen, die sich in der Vergangenheit nicht beteiligt haben, werden dies wahrscheinlich auch in Zukunft nicht tun. Daher ist es von großer Bedeutung, jene Frauen abzuholen, die ein Interesse an Mitgestaltung haben, denn zwei Drittel würden gerne an Wahlen teilnehmen, wenn sie das Recht dazu hätten. Zudem geht es darum, sie aktiv dazu zu ermutigen, sich politisch und gesellschaftlich zu engagieren. Dazu gehört auch die Einladung, sich gegebenenfalls in politischen Parteien einzubringen. Denn mangelnde Diversität und Repräsentativität innerhalb der Parteien wurde nicht nur von den betroffenen Frauen wahrgenommen, sondern schwächen Demokratie und Mitbestimmung im Allgemeinen (SORA 2023). Wenn die vorhandene Vielfalt in Wien nicht auch durch politische Repräsentant:innen abgebildet wird, wird dies nicht nur von Betroffenen negativ empfunden, sondern demotiviert sie auch zusätzlich, sich zu beteiligen (Soare/Gherghina 2024).
Insgesamt lässt sich feststellen, dass Frauen mit Fluchtgeschichte steigend mit der Dauer des Aufenthaltes, aber vor allem mit einer Perspektive auf die Staatsbürgerschaft ein höheres Niveau politischer Beteiligung aufweisen. Diese stellt einen echten Gamechanger dar: Frauen, die die österreichische Staatsbürgerschaft schon erhalten oder beantragt haben, interessieren, informieren und beteiligen sich über alle Partizipationsformen hinweg deutlich mehr als jene Frauen, die die Staatsbürgerschaft nicht beantragen wollen (vgl. dazu auch: Dinsen/Andersen 2022).
Neben einer aktiven Förderung der politischen Integration durch zielgruppengerechte Bildungsangebote und Partizipationsmöglichkeiten empfiehlt es sich – unter Berücksichtigung der primären und akuten Bedürfnisse –, nach der Ankunft in Österreich frühzeitig auf die Frauen zuzugehen, um politische Teilhabe zu ermöglichen.
Literatur- und Quellenangaben
Barber, Benjamin (1984): Strong Democracy: Participatory Politics for a New Age. Berkeley et al.: University of California Press
Braun, Kathrin / Spöri, Tobias (2024): Inclusive Districts of Democracy. Politische Beteiligung von Menschen mit Fluchtgeschichte in Wien, bezogen unter: fremdewerdenfreunde.at/uncategorized/studie-inclusive-districts-of-democracy (Zugriff: 10.4.2024)
Dinesen, Peter / Andersen, Rasmus (2022): The (Re)socialization of participatory political culture: Immigrants’ political participation between their contemporary country and their ancestral country. In: Political Geography, 98/102650
European Parliament (2023): Women in politics in the EU: State of play. Briefing 03-03-2023
Simsa, Ruth (2016): Beiträge der Zivilgesellschaft zur Bewältigung der Flüchtlingskrise in Österreich – Herausforderungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. In: SWS-Rundschau, 56/3/343-361
Soare, Sorina / Gherghina, Sergiu (2024): The Political Participation and Representation of Migrants: An Overview. In: Politics and Governance, 12, bezogen unter: doi.org/10.17645/pag.8089
SORA (2023): Demokratiemonitor 2023, bezogen unter: demokratiemonitor.at (Zugriff: 2.4.2024)
Kathrin Braun ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektmanagerin beim Verein Fremde werden Freunde, der sich mit dem Thema Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Fluchtgeschichte beschäftigt. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der politischen Partizipation von Menschen mit Fluchtgeschichte und der Einbeziehung marginalisierter Gruppen in demokratische Prozesse. Damit beschäftigt sie sich sowohl wissenschaftlich als auch angewandt. Nach ihrem Studium der Internationalen Entwicklung war sie im In- und Ausland im Capacity Building für Organisationen tätig.
Tobias Spöri ist promovierter Politikwissenschaftler und derzeit Gastprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien sowie Senior Research Fellow beim Thinktank d|part in Berlin. Zuvor war er als Research Fellow beim German Marshall Fund of the United States und als Scholar am Institut für Höhere Studien in Wien tätig. In seiner Forschung konzentriert er sich auf die Transformation der Demokratie und politische Beteiligung, insbesondere in den Ländern Zentral- und Osteuropas.