5. Soziale und politische Teilhabe

5.2 Ishraga Mustafa Hamid: Mit einem Koffer voller Erinnerungen – Leidenschaftlicher Fluchtweg zu meinem feministischen und politischen Engagement

„Wir staunen über die Schönheit eines Schmetterlings, aber erkennen die Veränderungen so selten an, durch die er gehen musste, um so schön zu werden.“ Maya Angelou

Mein Leben im Sudan hat mein politisches und feministisches Bewusstsein geprägt. Mein Vater spielte dabei eine große Rolle. Als ich 16 Jahre alt war, erwischte er mich beim Dämmerungsgebet mit dem Buch „Frauen und Sexualität“. Ich zitterte vor Angst. Er fragte mich, wovor ich Angst habe. Ich konnte nicht darauf antworten. Er nahm mir die Angst und sagte: „Du brauchst keine Angst vor Wissen zu haben.“ Mit diesem Satz flammte meine Sehnsucht nach Wissen auf und ich wurde zur leidenschaftlichen Leserin. Das zweite Erlebnis, das mein Solidaritätsbewusstsein mit Frauen geprägt hat, war die Polygamie in der Familie. Ich war elf Jahre alt, als mein Vater eine weitere Frau heiratete. Ich war stark verletzt und automatisch mit meiner Mutter solidarisch. Durch dieses und andere Erlebnisse wurde mir bewusst, dass ich für die Rechte von Frauen kämpfen muss, um den von den ersten Kämpferinnen begangenen Weg weiter zu ebnen.

Am 30. Juni 1989 führten die Islamisten einen Militärputsch durch, genau einen Tag nach meinem Uni-Abschluss. Meine Träume waren wie meine politisch aktive Generation zu Asche geworden. Mein Vater hatte recht, dass ein Studium im Bereich Journalismus und Kommunikationswissenschaft in einem Land wie dem Sudan keine Zukunft hat. Die Enttäuschung war sehr groß, da ich Journalistin werden wollte.

So kam ich wie viele anderen Migrant*innen mit einem Koffer voller Erinnerungen, Erlebnisse und Sehnsucht nach Freiheit und Veränderung, Erfahrungen, aber auch Freude und Leidenschaft nach Österreich.

Deutsch zu lernen war nicht einfach, wie ein Gehen auf Feuer. Ich wurde mit Rassismus konfrontiert. Rassismus muss im Kontext der Geschichte von Ausbeutung und Kolonialismus, vor allem in Afrika, betrachtet werden und steht im Zusammenhang mit Kapitalismus und Verarmung, mit Stereotypen und diskriminierenden Vorstellungen wie dem Bild des „kranken Mannes Afrika“ oder den Bildern aus „Tausendundeiner Nacht“. Bilder Afrikas, die sich in Lehrplänen, in Filmen und in Wahlkämpfen wiederfinden. Sie können nicht getrennt werden vom Eurozentrismus.

Nicht als Schwarze Feministin geboren, sondern Schwarze Feministin geworden

Trotzdem war mir bewusst, dass es keinen anderen Weg gibt, außer die Sprache zu lernen. Das geschah in der Volkshochschule (VHS) Brigittenau. Die VHS war mir „Vienna-Horizont und Schlüssel“ – Schlüssel zur österreichischen Gesellschaft. Ich begann mein Engagement in Wien mit selbstorganisierten Projekten und ich fing an, Studien durchzuführen. Es war nicht einfach, aber ich kämpfte weiter.

Meine Großmutter hat immer ein Sprichwort wiederholt: „Eine Hand kann nicht klatschen“, daher suchte ich nach den Frauen, zu denen ich gehöre. Afrikanischen bzw. arabischen Frauen.

1997 wurde ich vom ehemaligen Wiener Integrationsfonds mit einer Studie zum Thema Integration aus der Perspektive von Frauen aus dem afrikanischen Raum in Wien beauftragt. Diese Studie belegte, dass ich nicht die Einzige war, die mit Rassismus und Alltagsdiskriminierungen konfrontiert war, und bewies mir, dass der Weg die Selbstorganisierung war. Gemeinsam mit meiner Mitkämpferin aus Kamerun, Beatrice Achaleke, und anderen Mitstreiterinnen initiierte und gründete ich die „Schwarze Frauen Community“.

Seitdem höre ich nicht auf, meinen Weg zur politisch korrekten Schwarzen Feministin zu gehen. So bin ich nicht als Schwarze Feministin geboren, sondern Schwarze Feministin geworden. Feministin sein bedeutet bereit sein, mich mit den anderen Frauen zu solidarisieren, den anderen, die, wie früher ich selbst, sich in traurigen, schweren und harten Umständen befinden. Politisch sein bedeutet menschlich sein. Offen für Dialoge, für Solidarität und für Lobbying. Das Lesen und Schreiben hat mir mehr Verständnis für die anderen gegeben.

Durch Schreibwerkstätten Frauenstimmen dokumentieren

Da das Lesen und Schreiben in meinem Leben so eine wichtige Rolle spielt, wollte ich die Erfahrung an andere Frauen weitergeben. Die Zeit der Lockdowns in der Covid-Pandemie konnte ich dafür sinnvoll nutzen.

Während der Lockdowns begann ich, für arabisch sprechende Migrantinnen aus verschiedenen europäischen Ländern kostenlose Schreibwerkstätten per Zoom zu organisieren. Die erste Schreibwerkstatt fand in Kooperation mit der Plattform Stimmen kurdischer Feministinnen statt. Teilnehmerinnen waren geflüchtete Frauen, die in Österreich, Deutschland und den Niederlande ansässig sind. Als Resultat dieser Schreibwerkstatt wurde der Sammelband „Noon Al Manfa – Das Weibliche des Exils“ veröffentlicht. Die zweite Schreibwerkstatt fand mit dem Network of Eritrean Women statt, wobei zwölf Frauen aus Kanada, dem Vereinigten Königreich, Australien und Frankreich teilgenommen haben. Als Ergebnis entstand das Buch „Memories of the Exile over Coffee“. Die dritte Schreibwerkstatt resultierte in dem Buch „Unsere Geschichten, Flügel über die Grenzen“. Es erschienen die Bücher „Du bist schön“ – diese Schreibwerkstatt hatte sich mit Schönheitsnormen auseinandergesetzt – und „Unsere Großmütter sind der Reichtum unseres Gedächtnisses“, ein Buch über Großmütter. Die Bücher wurden von arabischen Verlegern publiziert, auf arabischen Buchmessen beworben und sind in verschiedenen arabischen Ländern erhältlich. Erfreulicherweise hat ein marokkanischer Literaturkritiker die Bücher und deren Inhalt analysiert und für eine Publikation vorbereitet.

Im Oktober 2020 gründete ich das Netzwerk „Arts of Banat Mendy“, um Projekte von kulturschaffenden Migrantinnen und Jugendlichen umzusetzen. 90 % von ihnen sind geflüchtet und sprechen Arabisch als erste oder zweite Sprache. Betitelt wurden die Schreibwerkstätten mit „Wir schreiben uns unsere Geschichten selbst“ und sie standen unter dem Motto: „Wir schreiben, um uns zu heilen“.

Schreibwerkstatt als feministisches Gedächtnis

Biografien von Migrantinnen sind kaum bekannt. Besonders wenig Wissen gibt es zu geflüchteten Frauen aus dem Sudan, Eritrea und Syrien, insbesondere zu Kurdinnen. Um diesen Wissensmangel auszugleichen und die Lebenserfahrung von Migrantinnen zu dokumentieren, wurde die Schreibwerkstatt gegründet. Die Frauen schildern nicht nur ihre eigenen Erfahrungen mit den diktatorischen Regimen bzw. mit Gewalt entweder zu Hause oder auf der Flucht, sondern auch die vielfältigen Probleme in der Aufnahmegesellschaft. Ihre Geschichten reflektieren die gesellschaftlichen Machtstrukturen. Die Frauen beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Themen, wie Rekrutierung zum Militär in Eritrea oder sexuelle Gewalt des Islamischen Staats in Syrien, in den „Flüchtlingslagern“ und seitens der Schlepper oder der jetzigen dramatischen Situation im Sudan, wo Gewalt und Vergewaltigungspolitik an der Tagesordnung sind.

Es werden Fragen zu ihrem Leben zwischen Hier und Dort aufgeworfen. Durch das Schreiben ihrer eigenen Geschichte entwickeln sie kritisches Bewusstsein. Ziel der Beiträge ist es, die Frauen sichtbar bzw. ihre Stimmen hörbar zu machen. Die biografischen Texte dienen als Möglichkeit für Emanzipation und Selbst-Empowerment. Die Teilnehmerinnen werden dazu motiviert, über ihre eigenen Fluchtgeschichten zu schreiben und die Texte zu publizieren. So konnten zwei Teilnehmerinnen im Rahmen dieses Projektes ihre Fluchtgeschichte in einem Buch veröffentlichen.

Zurzeit laufen zwei Schreibwerkstätten: eine mit und für sudanesische geflüchtete Frauen in Kampala, Uganda, unter dem Titel „Wir erzählen, schreiben, um uns zu heilen“. Das Ziel ist, den Frauen zu ermöglichen, ihr eigenes Trauma infolge des vor einem Jahr ausgebrochenen Kriegs im Sudan durch Schreiben und Erzählen zu verarbeiten. Die zweite Schreibwerkstatt thematisiert das „Gedächtnis unserer Häuser“, wobei die Teilnehmerinnen ihr eigenes Zuhause, bevor es der Krieg vernichtet hat, dokumentieren. Es ist ein weiterer Schritt, um das Gedächtnis aus feministischen Perspektiven zu bewahren.

Ishraga Mustafa Hamid wurde 1961 in Kosti, Sudan geboren. Sie studierte sowohl im Sudan als auch an der Universität Wien Kommunikationswissenschaft, das Studium schloss sie mit einem Master ab. Anschließend absolvierte sie ein Doktoratsstudium am Institut für Politikwissenschaft. Sie ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Kulturschaffende. Sie hat neun Bücher in Deutsch und Arabisch veröffentlicht und zehn Bücher übersetzt bzw. mitübersetzt. Sie führte mehrere Studien durch, vor allem zu Schwarzen Frauen und Migration in Österreich, und erhielt mehrere Preise, z. B. den Erwachsenen-Bildungsaward 2007 und den Herta-Pammer-Preis der Katholischen Frauenbewegung Österreichs. 2020 wurde ihr das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen. 2023 bekam ihr Buch „Ontha El anhar“ den englischen PEN-Award für Übersetzung.