3. Psychische Gesundheit

3.3 Waltraud Fellinger: Die Arbeit mit psychisch erkrankten Frauen mit Fluchterfahrung – Aufsuchende Angebote der Psychosozialen Dienste Wien

Geflüchtete Frauen sind schon im Herkunftsland, insbesondere in Kriegszeiten, genderspezifischer Gewalt ausgesetzt. Die Bedrohung durch sexualisierte Gewalt setzt sich während der Flucht und in manchen Situationen auch im Aufnahmeland fort. Bei Flucht im Familienverband kommt es im Rahmen der Belastungssituation oft zu häuslicher Gewalt. Sexuelle Gewalt stellt ein besonders hohes Risiko für das Entstehen von Traumafolgeerkrankungen dar (man-made, besetzt mit Scham und Schuldgefühlen), bis zu 50 % der Betroffenen erkranken.

Frauen sind insgesamt vulnerabler, sie entwickeln doppelt so häufig wie Männer nach Erleben eines Traumas eine Traumafolgestörung. Die Ursachen sind nicht eindeutig geklärt, auch wenn man den höheren Anteil an sexuellen Traumatisierungen in Betracht zieht, bleibt eine erhöhte Vulnerabilität. Die häufigste Krankheitsfolge nach einer Traumatisierung ist die Posttraumatische Belastungsstörung. An zweiter Stelle stehen Depressionen, an dritter Stelle Angsterkrankungen bei Frauen, Suchterkrankungen bei Männern.

Trotz eines tendenziell stärker ausgeprägten Hilfesuchverhaltens von Frauen ist der Weg zur Behandlung aufgrund der Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen erschwert. Dazu kommen Unwissenheit über die Angebote des Gesundheitssystems und kulturell bedingte unterschiedliche Auffassungen von Gesundheit, Krankheit und Behandlung. Für Frauen aus patriarchalisch geprägten Kulturen sind niederschwellige Angebote mit Nähe zur Community besonders wichtig. Diese Angebote setzen sich oft zunächst mit alltäglichen Problemen auseinander – Gespräche mit anderen Frauen und Trainerinnen verschaffen Erleichterung und können helfen, stärker belastete Frauen zu identifizieren und zu motivieren, Hilfe zu suchen. Die Vernetzung zwischen solchen niederschwelligen Angeboten und spezialisierten psychiatrischen Einrichtungen ist wichtig, um gezielte Zuweisungen zu ermöglichen.

Die Psychosozialen Dienste Wien haben Konsiliar-Liaison-Dienste in zwölf Quartieren der Wiener Flüchtlingshilfe eingerichtet. Die Psychiater:innen bieten vor Ort fachärztliche Beratung und Behandlung für Bewohnerinnen und Unterstützung für das Betreuungspersonal an. Unsere Erfahrungen bestätigen die Wichtigkeit von niederschwelligen Zugängen – das zeigt z. B. unsere Arbeit in einem großen Quartier für Ukrainer:innen. Hier besteht unser Team aus einer Psychiaterin, einem ukrainischen Psychologen und einer ukrainischen Psychotherapeutin.

Von sich aus kommen anfangs nur Patientinnen, die schon wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung waren und eine Fortsetzung ihrer Therapie suchen. Oder es haben sich Symptome, die sich schon gebessert hatten, wieder verschlechtert und eine bereits abgeschlossene Behandlung muss wieder aufgenommen werden. Wenn jemand noch nie Kontakt mit einer psychiatrischen Einrichtung hatte, dann herrschen Misstrauen und Abwehr vor: „Ich bin ja nicht verrückt!“

Um die Zurückhaltung der Bewohnerinnen zu überwinden, müssen wir viel Energie in Kontaktaufnahme und Aufklärung investieren. Laufend angebotene muttersprachliche Gruppen zu Themen wie Entspannung, Gesundheit, Psychoedukation etc. ermöglichen einen niederschwelligen Zugang. Dabei können wir Vertrauen aufbauen und über unsere Angebote informieren. Wenn eine Teilnehmerin als psychisch belastet auffällt, versuchen wir, sie zu einer weiterführenden Behandlung zu motivieren.

Das Angebot von Kindergruppen zur Prävention und zur Stärkung der Resilienz der Kinder wird leichter angenommen als Angebote, die die Mütter direkt betreffen. Wenn sich in den Elterngesprächen dann doch ein persönlicher Bedarf abzeichnet, ist der Schritt zur Eigenbehandlung leichter.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass Frauen mit Fluchterfahrung oft genderspezifischer Gewalt ausgesetzt und vulnerabler für Traumafolgeerkrankungen, andererseits zugänglicher für Hilfsangebote sind. Der Einstieg soll über niederschwellige, vorzugsweise muttersprachliche Zugänge ermöglicht werden. Diese Angebote müssen gut vernetzt und für gegenseitige Zuweisungen durchlässig sein, um einerseits den Zugang zu erleichtern und andererseits die vorhandenen Ressourcen zielgerichtet nützen zu können.

Waltraud Fellinger ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und ist ausgebildet in Katathym Imaginativer Psychotherapie mit Schwerpunkt Traumatherapie sowie in Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR). Sie ist seit Jänner 2000 bei den Psychosozialen Diensten Wien (PSD) beschäftigt und war von 2004 bis 2011 auch als Fachärztin im Psychosozialen Zentrum ESRA tätig. Dort lag ein Schwerpunkt in der Arbeit mit traumatisierten Menschen und in der Hilfe für Überlebende der NS-Verfolgung. Sie ist seit 2015 zuständig für den Bereich Flüchtlingshilfe des PSD und leitet dort den Konsiliar-Liaison-Dienst zur Wiener Flüchtlingshilfe.