3.5 Shila Ahmadi, Marzia Qayoumi und Sabine Kampmüller: Trauma-Arbeit in der Sprache der Seele – AFYA-Workshops für Schüler:innen
Zakia redet mit niemandem. Vor einem Jahr ist sie alleine nach Wien gekommen. Ihre Lehrerin an der Mittelschule ist besorgt um die 14-Jährige, die immer unkonzentriert und erschöpft wirkt. Sie kontaktiert AFYA und bittet um Unterstützung.
Zakia ist eine von 22.084 Menschen, die in Afghanistan geboren wurden und, oft nach langen Aufenthalten im Iran, nach Wien geflüchtet sind (Magistrat der Stadt Wien 2023). Mindestens eine von drei geflüchteten Personen entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung (Patanè et al. 2022).
„Kräfte stärken – Trauma bewältigen“ (original: „Teaching Recovery Techniques“, Sarkadi et al. 2018) ist das erste niedrigschwellige Programm zur Traumafolgenprävention in Österreich. AFYA – Verein zur interkulturellen Gesundheitsförderung bietet es seit 2018 in Wien an, 1.174 Schüler:innen haben bisher teilgenommen, ein Fünftel davon aus Afghanistan. Die Evaluationsergebnisse zeigen einen signifikanten Rückgang von Traumasymptomen nach der Teilnahme (Krenn-Maritz 2019).
Marzia Qayoumi und Shila Ahmadi kennen die Probleme afghanischer Mädchen. Als muttersprachliche Trainerinnen starten sie eine Gruppe an Zakias Schule, an der insgesamt sieben Mädchen acht Wochen lang teilnehmen werden.
Der Einstieg gelingt mit der Geschichte eines Kindes, das die Folgen einer traumatischen Erfahrung erlebt. Hier hören die Schülerinnen zum ersten Mal, dass ihre eigenen Reaktionen auf Traumata typisch und sie nicht „verrückt“ sind, wenn ihr Kopf nicht mehr zur Ruhe kommt.
In den folgenden Stunden werden schrittweise Techniken und Strategien vermittelt, um mit posttraumatischen Belastungen besser umzugehen: mit (Hoch-)Stress und Anspannung, mit Sorgen, Ängsten, Wut, Albträumen oder schlimmen Erinnerungen. Neben praktischen Übungen und theoretischem Input ist immer Zeit für Spiele, Bewegung und Gespräche.
Beim Thema „Sorgen sortieren“ scheint die Themenliste endlos zu sein:
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Der Vater ist im Krieg verschwunden, seither hat die Mutter kaum mehr Geduld für ihre Kinder.
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Zu Hause ist kein Raum zum Aufgabenmachen, das führt zu vielen Schwierigkeiten in der Schule.
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Die große Schwester ist gegen den Willen ihrer Eltern mit einem Mann zusammengezogen und es gibt viel Streit zu Hause.
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Die 12-jährige Cousine wurde von ihrem Vater verlobt; wenn sie versucht, sich zu wehren, wird sie geschlagen.
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Die Mädchen analysieren ihre Sorgen dahingehend, welche sie selbst lösen können und wo sie Hilfe brauchen, und beginnen auch zu akzeptieren, dass sie manches nicht ändern können. In der Gruppe entwickeln sie Ideen und verstehen, dass sie mit ihren Fragen nicht alleine sind.
Am Beginn und am Ende des Programmes treffen die Trainerinnen auch die Eltern. Eine Mutter beschreibt, was sie an ihrer Tochter beobachtet: „Sie wird nicht mehr wütend, sie schreit nicht mehr, sie kann nachts alleine auf die Toilette gehen. Sie konzentriert sich mehr auf ihr Lernen und sagt immer, dass Atemübungen ihre Helfer geworden sind.“
In der letzten Stunde beginnt auch Zakia zu erzählen. Jetzt hat sie Vertrauen zu den Trainerinnen, die ihre Sprache verstehen, und öffnet sich für weitere Unterstützung. Mit einem „Danke an Österreich und AFYA“ verabschiedet sie sich.
Marzia und Shila beschäftigt vor allem eine Frage weiter: Wie kann man die patriarchale Gewalt, die viele Mädchen erleben, stoppen? Sie wünschen sich Angebote für Väter, um aus der Gewaltspirale auszusteigen. Als muttersprachliche Gesundheitstrainerinnen werden sie weiter ihren Beitrag leisten, um positive Veränderungen für afghanische Mädchen und Frauen zu schaffen.
Literatur- und Quellenangaben
Krenn-Maritz, P. (2019): Evaluationsstudie „Kräfte stärken – Trauma bewältigen“ (Teaching Recovery Techniques). Wien: Verein AFYA, bezogen unter: afya.at/media/files/afya-evaluation-2019-gesamtstudie.pdf (Zugriff: 10.5.2024)
Magistrat der Stadt Wien (Hrsg.) (2023): Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2023, bezogen unter: wien.gv.at/statistik/pdf/jahrbuch.pdf (Zugriff: 10.5.2024)
Patanè, M. / Ghane, S. / Karyotaki, E. / Cuijpers, P. / Schoonmade, L. / Tarsitani, L. / Sijbrandij, M. (2022): Prevalence of mental disorders in refugees and asylum seekers: a systematic review and meta-analysis. In: Glob Ment Health, 9/250-263, bezogen unter: doi.org/10.1017/gmh.2022.29
Sarkadi, A. / Ådahl, K. / Stenvall, E. et al. (2018): Teaching Recovery Techniques: evaluation of a group intervention for unaccompanied refugee minors with symptoms of PTSD in Sweden. In: Eur Child Adolesc Psychiatry, 27/467-479, bezogen unter: doi.org/10.1007/s00787-017-1093-9
Shila Ahmadi ist ausgebildete Pflegehelferin und war als Frauengesundheitstrainerin in Afghanistan tätig. Seit 2010 lebt sie mit ihrer Familie in Österreich. Ausbildung zur interkulturellen Gesundheitstrainerin durch die Caritas Niederösterreich. Seit November 2017 ist sie als Projektmitarbeiterin bei AFYA tätig. Ausbildung zur Mentorin für psychische Gesundheit, zur interkulturellen Elterntrainerin, TRT- und STARK-Trainerin.
Marzia Qayoumi studierte Pharmazie und war viele Jahre in Kliniken und beim Internationalen Roten Kreuz in Kabul als Apothekerin und Managerin tätig. Seit 2015 lebt sie mit ihrer Familie in Wien. Sie war Lauftrainerin beim Club 261 und ist seit 2021 Projektmitarbeiterin bei AFYA. Ausbildung zur Mentorin für psychische Gesundheit, zur interkulturellen Elterntrainerin, TRT- und STARK-Trainerin.
Sabine Kampmüller ist Gründerin und geschäftsführende Obfrau von AFYA. Sie absolvierte ein Masterstudium in International Health (MIH). Von 1996 bis 2016 war sie in der medizinisch-humanitären Hilfe mit Ärzte ohne Grenzen tätig – in Projekten in Ostafrika und im Kaukasus sowie in leitenden Funktionen im Wiener Büro. Schwerpunkt: Evaluations- und Lernprozesse in interkulturellen Gesundheitsprojekten.