3.4 Deborah Klingler-Katschnig: Psychische Gesundheit bei Geflüchteten – Barrieren und das Projekt NEDA als Lösungsansatz
Die psychische Gesundheit hat, neben vielen anderen Herausforderungen, mit denen Geflüchtete konfrontiert sind, eine zentrale Rolle. Trotz dringenden Bedarfs an psychischer Unterstützung nehmen geflüchtete Menschen diese nur selten in Anspruch (Byrow et al. 2020: 2; Satinsky et al. 2019: 861; Bartolomei et al. 2016: 1; Lamkaddem et al. 2014: 6). Um diese Hürden zu adressieren, wurde 2019 in Wien vom Institut für Frauen- und Männergesundheit das Projekt NEDA, gefördert durch den Fonds Soziales Wien, initiiert. Es bietet einen vielversprechenden Lösungsansatz für die sprachlichen, kulturellen und strukturellen Barrieren, die es geflüchteten Menschen erschweren, psychische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Das Projekt NEDA: ein Lösungsmodell
NEDA bietet kostenlose (klinisch-)psychologische/psychotherapeutische/psychosoziale Beratungen, Psychoedukations-Workshops und Informationsmaterial für Minderjährige und Erwachsene mit Fluchterfahrung in der Wiener Grundversorgung. Alle Angebote werden vor Ort in den drei Gesundheitszentren FEM, FEM Süd und MEN sowie aufsuchend umgesetzt.
Das in den Erstsprachen Arabisch, Englisch, Farsi/Dari, Russisch und Ukrainisch agierende Team stärkt durch eine kultur- und gendersensible und besonders niederschwellige Herangehensweise die psychische Gesundheit von Geflüchteten insbesondere in akuten Krisensituationen.
Im Fokus steht die Fähigkeit zur Emotionsregulation, da das Zulassen und Bewältigen von meist sehr belastenden und bedrängenden Gefühlen für viele Adressat:innen ebenso zentral ist wie Basisinformationen zu Trauma und der Umgang mit möglichen retraumatisierenden Situationen.
Die häufigsten Themen der Beratungen sind Unsicherheit, Angst vor Ablehnung des Asylantrags, traumatische Erfahrungen auf der Flucht und im Heimatland, Retraumatisierung durch aktuelle politische Ereignisse sowie die Sorge um die zurückgelassene Familie, Entfremdung und Beziehungsprobleme. Auch häusliche Gewalt bzw. allgemeine Gewaltbereitschaft kommen häufig zur Sprache, ebenso befürchteter Identitätsverlust, Selbstwert- und Selbstsicherheitsprobleme und suizidale Tendenzen. Folglich sind Themen wie Gewaltprävention, Umgang mit Konflikten, Deeskalation und Ressourcenstärkung ebenfalls von großer Bedeutung.
Bei den Workshops geht es hauptsächlich um gewaltfreie Kindererziehung, Stressmanagement und Stabilisierungsmethoden.
Die rund 2.500 Beratungen pro Jahr werden seit Projektbeginn zunehmend ausgewogen von Frauen und Männern (Herkunftsländer: Afghanistan, Iran, Irak, Russland, Syrien, Tschetschenien, Ukraine und einige andere mehr) in Anspruch genommen. Die Mehrheit der Klient:innen ist volljährig – ein Viertel ist minderjährig.
Die Themen, mit denen Frauen in die Beratungen bei NEDA kommen, sind hauptsächlich Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, Überlastungen unterschiedlicher Art und Schwierigkeiten in der Kindererziehung. Häufig zeigt sich auch eine Entfremdung unter den Ehepartner:innen bzw. eine Veränderung in den traditionellen Rollenbildern, die zu Schwierigkeiten im Alltag führen kann. Es ist immer wieder spürbar, dass besonders die Frauen unter Mehrfachbelastungen leiden und sich teilweise zusätzlich auch noch um pflegebedürftige Angehörige kümmern müssen. Das erhöht den Druck auf Frauen und führt zu weiteren emotionalen Belastungen. Insbesondere ältere Frauen, die nicht mehr im sogenannten erwerbsfähigen Alter sind, sehen kaum Perspektiven für sich und haben daher auch wenig Interesse daran, die Sprache im Ankunftsland zu lernen. Dies führt meist zu größerer sozialer Isolation und weiteren Frustrationen. Immer wieder finden Mädchen und Frauen ihren Weg zu NEDA, die starke suizidale Tendenzen zeigen und durch ihre allgemeine und momentane Situation den Lebenswillen verloren haben. Dies stellt eine große Herausforderung dar, da schnell und so zeitnah wie möglich reagiert werden muss, um Hilfe und Unterstützung anzubieten.
Eine Besonderheit von NEDA ist es, insgesamt auf aktuelle Ereignisse rasch und unkompliziert zu reagieren. So konnte das Sprachangebot der Beratungen gleich nach Kriegsbeginn in der Ukraine im März 2022 auf Ukrainisch und Russisch erweitert werden. Mit 2024 sind Somali als weitere Sprache sowie klinisch-psychologische Diagnostik neu im Angebot. Die Erweiterungen des Konzepts beziehen sich niederschwellig und passgenau auf die jeweils aktuelle Bedarfslage der Adressat:innen und bilden diese ab. Als zusätzliche Maßnahme stellt NEDA niederschwellig über Poster, Videos und Audiodateien psychoedukative Informationen zu Themen wie Stress, Depressionen, Trauma, Atemtechniken etc. zur Verfügung – unter anderem über QR-Codes.
Neben den kulturellen Faktoren behindern auch strukturelle Barrieren den Zugang zu psychologischer Hilfe für Geflüchtete. Oft wissen diese nicht, wo sie Unterstützung finden können, und kämpfen mit sprachlichen Barrieren in der Kommunikation mit Gesundheitsdienstleistenden (Byrow et al. 2020: 2; Priebe et al. 2016: 10). Das Projekt NEDA geht aktiv auf diese Herausforderungen ein, indem es niederschwellige Angebote in Erstsprachen bietet und durch Outreach-Dienste, wie z. B. Psychoedukationsgruppen für Kinder oder Stabilisierungsgruppen für Senior:innen, die psychosoziale Unterstützung direkt zu den Betroffenen bringt.
Literatur- und Quellenangaben
Bartolomei, Javier et al. (2016): What are the barriers to access to mental healthcare and the primary needs of asylum seekers? A survey of mental health caregivers and primary care workers. In: BMC Psychiatry, 16/336, bezogen unter: doi.org/10.1186/s12888-016-1048-6
Byrow, Yulisha et al. (2020): Perceptions of mental health and perceived barriers to mental health help-seeking amongst refugees: A systematic review. In: Clinical Psychology Review, 75/101812, bezogen unter: doi.org/10.1016/j.cpr.2019.101812
Lamkaddem, Majda et al. (2014): Course of post-traumatic stress disorder and health care utilisation among resettled refugees in the Netherlands. In: BMC Psychiatry, 14/90, bezogen unter: doi.org/10.1186/1471-244x-14-90
Priebe, S. / El-Nagib, R. / Giacco, D. (2016): Public health aspects of mental health among migrants and refugees: A review of the evidence on mental health care for refugees, asylum seekers, and irregular migrants in the WHO European Region. Copenhagen: HEN, Health Evidence Network: World Health Organization, Regional Office for Europe
Satinsky, Emily N. et al. (2019): Mental health care utilisation and access among refugees and asylum seekers in Europe: A systematic review. In: Health Policy, 123/9/851-863, bezogen unter: doi.org/10.1016/j.healthpol.2019.02.007
Deborah Klingler-Katschnig ist Klinische und Gesundheitspsychologin. Sie schloss ihr Psychologiestudium im Jahr 2000 in Wien ab und war danach in der Mobilen Jugendarbeit in Wien tätig. Von 2002 bis 2017 war sie in der Aids Hilfe Wien für die HIV/AIDS-Prävention bei Jugendlichen zuständig und wechselte 2018 zum Frauengesundheitszentrum FEM (Klinik Floridsdorf), wo sie seit 2019 für das Projekt NEDA als Projektleiterin verantwortlich ist. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die psychische Gesundheit und Gesundheitsförderung von sozial benachteiligten Mädchen und Frauen, insbesondere mit Fluchthintergrund.