3.1 Caroline Niknafs und Irena Klissenbauer: Mehrsprachigkeit in der Psychotherapie – Eine Initiative des Dachverbands der Wiener Sozialeinrichtungen
Menschen mit Fluchterfahrung müssen mit belastenden Erfahrungen aus drei Kontexten zurechtkommen: den extremen Bedingungen im Heimatland, den unterschiedlichsten Gefahren auf der Flucht und der Unsicherheit und den schwierigen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland. Folglich besteht die Aufgabe in Österreich und Wien darin, sowohl bestehende als auch neu entstandene Erkrankungen bzw. schwerste Belastungen zu identifizieren und zu behandeln als auch präventiv der Chronifizierung und Entstehung von Erkrankungen im Aufnahmeland entgegenzuwirken.
In den letzten Jahren bieten neben etablierten Organisationen wie Hemayat auch andere Institutionen Psychotherapie bzw. andere Interventionen/Unterstützungen an – eine Gesamtstrategie im Sinne der Gesundheits- und Integrationsförderung ist jedoch nicht zu erkennen.
Ambulante Dienste, in erster Linie Psychiaterinnen der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD-Wien), betreuen Patient_innen in Unterkünften der Flüchtlingshilfe monatlich, manchmal in zweiwöchigem Rhythmus. FEM bietet mit dem Projekt NEDA mehrsprachige psychologische Kurzzeit-Behandlung in den Unterkünften, ebenso wie MIT, das mobile Interventionsteam der Caritas Wien. Der Fonds Soziales Wien (FSW) finanziert damit Angebote, für die das Regelsystem keine Lösung anbietet: kostenlose Therapie und mehrsprachige Gesundheitsangebote in diesem Fall und im Allgemeinen.
Welche Schritte sind notwendig, um psychische Gesundheit und Perspektiven zu ermöglichen?
Erkennen: Psychische Gesundheit ist kein Baustein von vielen
Psychische Gesundheit wird zu oft als ein Baustein von vielen gesehen, oft sogar als nachgeordneter Auftrag. Dabei wird bei näherer Betrachtung schnell klar, dass psychische Gesundheit vielmehr die Voraussetzung bzw. ein Hemmnis für viele Schritte ist: Wie lernen mit schweren Traumatisierungen? Wie Arbeit finden, wenn ich mich nicht aus dem Haus traue? Wie eine Wohnung suchen, wenn ich nur noch weine? Wie irgendetwas tun, wenn ich sicher bin, verrückt zu werden? Oder verfolgt? Wie an ein neues Leben denken, wenn das alte so weh tut? Für alle Schritte auf dem Weg zur Teilhabe braucht es selbstverständlich ein zumindest minimales Selbstwertgefühl – wer sich nichts (zu)traut, wird kaum etwas tun und noch weniger schaffen. Ein bekannter Teufelskreis.
Als der Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen 2018 Ziele für seine Arbeit im Bereich der Flüchtlingshilfe festlegte, erhielt das Thema psychische Gesundheit einen wichtigen Platz.
Lobbying und Maßnahmen
Im Rahmen unseres Auftrags und unserer Möglichkeiten erschien es uns zielführend, sowohl in Aufklärung und Lobbying zu den Themen Flucht und psychische Gesundheit als auch in einen konkreten Vorschlag zu investieren, der dem Qualitätsanspruch und der menschenrechtsbasierten Wiener Haltung Rechnung trägt: in die Ausbildung geflüchteter Menschen mit passenden Quellberufen, guten Sprachkenntnissen und persönlicher Qualifikation zu Psychotherapeut_innen. Sie sprechen die Sprachen besonders vulnerabler Zielgruppen (und das ist der zentrale Aspekt), kennen die Herkunftskontexte und sind außerdem in manchen Fällen gewissermaßen Peers: Sie haben oft in ihren Heimatländern Ähnliches erlebt, jedenfalls aber sind sie vertraut mit den Belastungen im Aufnahmeland. Auch sind sie weniger anfällig dafür, alles durch die Brille von „Kultur“ zu sehen, da ihre Klient_innen für sie wohl kaum „exotisch“ sind.
Zu Beginn des Projekts haben wir Hürden befürchtet, die keine waren, und andere gefunden, mit denen wir nicht gerechnet haben und die wir weiterhin abbauen wollen.
Zuständige Person: Niemand
Im Laufe der nächsten zwei Jahre haben wir viele Gespräche mit Ausbildungseinrichtungen und Stakeholder_innen geführt, die letztlich zu fünf Ausbildungsplätzen und der Erkenntnis führten, dass sich tatsächlich keine Entscheidungsträger_innen dieses Themas zielführend annehmen wollen. Ich vermute, dass der Zusammenhang mit Integration und „Arbeitsfähigkeit“, mit Produktivität und Teilhabe, aber auch gesellschaftlichem Frieden zu wenig gesehen wird: Die postulierten „Integrationsleistungen“ können von schwer belasteten, erkrankten, traumatisierten, von Angstzuständen geplagten, verzweifelten Menschen wohl kaum erwartet werden – Sprache lernen, Wohnung finden, arbeiten, Kinder versorgen und integrieren etc. Im Gegenteil: Unversorgt, unbehandelt können solche Belastungen Isolation und/oder Abkehr von der Gemeinschaft/Gesellschaft mit sich bringen, was zu Passivität, aber auch Gewaltbereitschaft führen kann.
Last, but not least sind Menschen wie diese vier Psychotherapeut_innen wichtige Vorbilder; sie verbinden mit ihrer Person und Rolle Altes und Neues für uns in unserer Gesellschaft; sie sind aber auch mentale Anker für geflüchtete Menschen: Sie sind ein Zeichen für reale Chancen und für eine Willkommenskultur, von der geflüchtete Menschen außerhalb der Flüchtlingshilfe selten etwas spüren. Und sie haben eine gesundheitsfördernde Rolle. Ein_e Psychotherapeut_in behandelt pro Jahr rund 46 Patient_innen, d. h., vier Psychotherapeut_innen könnten rund 200 Menschen jährlich versorgen.
Hürden, die sofort abgebaut werden können
Die befragten rund 20 Expert_innen aus Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie waren ausnahmslos der Ansicht, dass wir dringend Psychotherapeut_innen mit relevanten Sprachen für Geflüchtete ausbilden müssen – alle standen dazu, dass Dolmetschen eine Krücke ist, deren Einsatz besser als erwartet funktionieren kann, aber dennoch eine Krücke bleibt.
Die zweite befürchtete Hürde, zu wenig geeignete oder willige Kandidat_innen, erwies sich ebenfalls als nicht existent: Bereits bei der ersten probeweisen Anfrage haben uns unsere Mitgliedsorganisationen rund zehn geeignete und interessierte Personen für die Psychotherapie-Ausbildung mit CVs, Empfehlungsschreiben (freiwillige psychosoziale Mitarbeit über einen längeren Zeitraum), passenden Quellberufen und ausreichenden Sprachkenntnissen empfohlen, viele weitere in der Folge.
Die Hürde, deren Größe wir unterschätzt haben, war die des Engagements und des Willens der Entscheidungsträger_innen für eine langfristige Finanzierung. Auch unsere Freude über die Verankerung der Psychotherapie an der Universität wurde rasch gedämpft: Weiterhin sind hohe Kosten mit dem Studium verbunden.
Was haben wir erreicht?
Dank pro mente (vier vergünstigte Plätze), der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (ein Platz) und der RD Foundation Vienna (25.000 Euro) konnten fünf Menschen zum Propädeutikum zugelassen werden (drei Frauen und ein Mann, eine weitere Kandidatin fiel vor Beginn aus), die neben Deutsch und Englisch auch Arabisch, Kurdisch, Persisch, Russisch, Somalisch und Tschetschenisch sprechen. Alle vier haben das Propädeutikum erfolgreich abgeschlossen und befinden sich im Fachspezifikum. Sie stehen für eine Vielfalt, die in guten Jobs kaum repräsentiert ist.
Die vier Pionier_innen verfolgen ihr Ziel unbeirrt und brauchen erstaunlich wenig Unterstützung. Wir hatten vorab Mentor_innen gewonnen, um eine Begleitung durch die Ausbildung hindurch zu gewährleisten.
Beigetragen haben wir als Dachverband außerdem dazu, den Diskurs zu psychischer Gesundheit und adäquater Versorgung breit, intensiv und mit einem Fokus auf vulnerable Gruppen zu führen. Wir haben dafür den Prozess „psychische Gesundheit“ aufgesetzt, der die Bedarfe aufzeigt, Stakeholder_innen vernetzt und verschiedene Lösungsansätze vorantreibt. Zu den gemeinsamen Erfolgen mit unseren Partner_innen gehören sicherlich der Ausbau der Plätze und Unterstützungssysteme für Menschen mit erhöhtem Betreuungsbedarf in der Flüchtlingshilfe und die verbesserte Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie, ambulanten Diensten und Sozialeinrichtungen.
Achtung, Kulturalisierung
Das Ziel ist das selbstbestimmte Leben, das in jedem Fall mit den bestehenden Hürden bzw. Rahmenbedingungen in den Bereichen Schule, Ausbildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheit nur von den „Stärksten“ gestaltbar ist. Geflüchtete Menschen fragen zumeist zuerst nach Arbeit oder nach Deutschkursen und Arbeit. Wie lange es dauern wird, bis sie arbeiten dürfen, wie viel Zeit bis dahin sinnlos verstreichen muss und wie schwierig es tatsächlich ist, Arbeit zu finden, ist wohl den meisten Menschen nicht vollumfänglich klar: Ich kann und will arbeiten, wieso braucht mich niemand?
Während beim Thema Arbeit allzu vieles im Argen und bei der Politik liegt, lässt sich in der Versorgung für psychische Gesundheit einiges tun.
Caroline Niknafs ist seit 2019 für den Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen in den Bereichen Flüchtlingshilfe und psychische Gesundheit tätig. Der Dachverband koordiniert die inhaltliche und strategische Zusammenarbeit der Wiener NGOs in den Bereichen Flucht, Wohnungslosigkeit, Sucht und Drogen, Behinderung und Pflege. Frühere Stationen führten sie u. a. ins Europabüro der Stadt Wien, zum Programm Writers in Exile und in die NGOs Caritas Wien (Verein Superar) und Hebrew Immigrant Aid Society. Sie studierte Iranistik, Turkologie und Slawistik und promovierte zu religiösen Minderheiten in Iran.
Irena Klissenbauer ist Gründerin des „Museum of Survivors“, das sich mit der Aufarbeitung von Kriegstraumata und deren Auswirkungen auf nachfolgende Generationen beschäftigt. Darüber hinaus leitet sie den Verein ViARTdukt, der friedensstiftende Bewusstseinsbildung durch Kunst und Kultur fördert. Sie war an der Initiative „Mehrsprachigkeit in der Psychotherapie“ des Dachverbands der Wiener Sozialeinrichtungen beteiligt und absolviert derzeit eine Psychotherapie-Ausbildung. Zusätzlich verfügt sie über einen Abschluss in Handelswissenschaften und eine Zertifizierung als Agile Coach.