3. Psychische Gesundheit

3.2 Barbara Preitler: Psychotherapie nach der Flucht – Begleitung von traumatisierten Frauen bei Hemayat

So viele Frauen durfte ich in meinen Psychotherapien kennenlernen und es fällt schwer, der großen Vielfalt gerecht zu werden. Ich beschreibe daher den Beginn einer Psychotherapie, wie sie bei Hemayat typisch ist:

Aus dem Protokoll des Erstgesprächs mit Frau A., das meine Kollegin geführt hat, weiß ich einige Eckdaten über sie. Ihre Motivation, psychotherapeutische Hilfe zu suchen, hat sich in letzter Zeit verstärkt. Sie leidet zunehmend an Alpträumen, Konzentrationsproblemen und hat Angst, ihren Kindern keine gute Mutter mehr sein zu können, weil sie so nervös ist. Besonders beunruhigen Frau A. Episoden, in denen sie nicht genau weiß, wo sie ist und was mit ihr geschieht. Sie hat aber auch Sorge, was in der Psychotherapie passieren wird. Sie ist ja nicht verrückt und fürchtet, dass wir so diagnostizieren.

Bereits die freundliche Aufnahme im Büro bei der Anmeldung hat sie etwas beruhigt. Das Gespräch war sachlich und wohlwollend und nicht verurteilend. Aber der Verweis, dass sie vielleicht mehrere Monate auf einen Therapieplatz warten muss, war doch entmutigend. Sie hatte kurz nach dem Erstgespräch einen Termin bei einem Psychiater, der mit Hemayat zusammenarbeitet, und sie merkt, dass ihr die verordnete Medikation guttut.

Frau A. freut sich, dass jetzt auch die Psychotherapie beginnt. Aber sie hat auch Angst, wieder alle furchtbaren Erlebnisse im Heimatland und auf der Flucht erzählen zu müssen. Wir nehmen uns Zeit, eine sichere therapeutische Beziehung aufzubauen. Dazu gehört auch der Therapieraum. Ich frage, ob sie sich wohl fühlt, ob der Sessel passt, sie noch einen Polster haben möchte etc. Dann wird ihr das therapeutische Setting erklärt. Die Information, dass sie bei uns alles erzählen darf, aber nicht muss, ist sehr entlastend. Auch dass wir Schweigepflicht haben, ist beruhigend.

Sie kann sich sicher fühlen und so beginnen die Erinnerungen, die sie schon so lange quälen, aus ihr herauszubrechen. Sie erzählt von den furchtbaren Dingen, die vor der Flucht im Heimatland passiert sind und die sie zwar im Asylverfahren schon grob skizziert hat, die aber noch eine tiefere, verletzendere Dimension haben. Und dann, was auf der Flucht passiert ist und worüber sie mit noch niemandem hat sprechen können, weil es so unfassbar und so beschämend für sie ist. Die ruhige Atmosphäre im Therapieraum hilft ihr, nicht ganz in die Vergangenheit abzugleiten, sondern bewusst wahrzunehmen, dass sie in diesem sicheren Raum über etwas, was früher war, spricht. Wir stellen sicher, dass wir diese therapeutische Sitzung gut und damit wieder ganz im Hier und Jetzt beenden.

So beginnt ein langer therapeutischer Prozess der Traumabewältigung, aber auch der Stärkung der psychischen Kraft, die es Frau A. ermöglicht hat, trotz aller Schwierigkeiten, bis hierher zu kommen. Leider wird dieser Prozess immer wieder von aktuellen traumatischen Situationen unterbrochen werden.

Viele der psychotherapeutischen Behandlungen bei Hemayat beginnen so oder so ähnlich. Frauen schaffen es meist etwas leichter, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das mag einerseits daran liegen, dass in den meisten Kulturen Mädchen erlaubt wird, Gefühle zu zeigen und darüber zu sprechen; andererseits sind viele unserer Klientinnen Mütter, die merken, dass sie Unterstützung brauchen, damit sie sich um ihre Kinder kümmern können. Dies ist meist unabhängig davon, ob sie mit dem Vater der Kinder zusammenleben oder nicht. „Wegen meiner Kinder habe ich das alles auf mich genommen“ ist ein Satz, den wir von geflüchteten Frauen oft hören. Zugespitzt wird dieser in einigen Fällen darin, dass der einzige Lebenssinn dieser Mütter in ihren Kindern liegt. Es ist ein langer Prozess hin zu einem erfüllten Leben, in dem die Kinder zwar eine Hauptrolle spielen, aber auch Ausbildung, Beruf, Ehe, gesellschaftliches Leben Platz haben dürfen.

Fast alle dieser Frauen kommen aus sehr patriarchal organisierten Gesellschaften. Daher können die Möglichkeiten und Erwartungen, die sie hier erwarten, verwirrend und überfordernd sein, aber auch vollkommen neue Perspektiven eröffnen.

Viele unserer Patientinnen sind noch nicht in rechtlicher Sicherheit und auch die Angehörigen im Heimatland sind immer wieder in Gefahr. Dadurch wird die Bearbeitung vergangener Traumata oft unmöglich und es geht immer wieder um Krisenintervention. Aktuelle Stresssituationen, aufkeimende Angst wegen Bescheiden und Interviews, aber auch Trauer aufgrund aktueller Todesfälle von Angehörigen sind bei unseren Klientinnen gegenwärtig und damit auch in den Therapieräumen Thema.

Die Therapie bei Hemayat begleitet die Frauen, die ihre erste Heimat verloren haben, in ein möglichst selbstbestimmtes Leben in Österreich, wo sie trotz der psychischen Traumata, die sie in der Vergangenheit erfahren haben, sicher leben, arbeiten und feiern können.

Barbara Preitler ist Psychotherapeutin, Psychologin, Supervisorin und Autorin sowie Mitbegründerin und Psychotherapeutin bei Hemayat, Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende in Wien. Sie ist Lektorin, Autorin und Vortragende mit dem Schwerpunkt Psychotraumatologie im interkulturellen Bereich, psychosoziale Interventionen in Krisensituationen und bei kollektiven Traumata. Ausgewählte Publikationen zum Thema: „Grief and Disappearance. Psychosocial Interventions“ (2015) und „An ihrer Seite sein. Psychosoziale Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen“ (2016).