4. Gesundheitsversorgung

4.1 Wanda Spahl: Gesundheitsversorgung für geflüchtete Frauen in Wien – Herausforderungen und Chancen

Maissa ist eine junge syrische Frau. Im Rahmen der Familienzusammenführung mit ihrem Mann, der in Österreich Asyl bekommen hatte, bestiegen sie und ihre Tochter 2017 ein Flugzeug nach Wien. Kurz nach ihrer Ankunft wurde sie schwanger. Die Geburt in einem Wiener Krankenhaus verlief gut und sie war besonders zufrieden mit den Krankenpflegerinnen, die ihre mittels Körpersprache ausgedrückten Bedürfnisse verstanden. Auch nach fast zwei Jahren in Wien sprach Maissa kaum mehr Deutsch als „hallo“. Zuerst hinderte sie ihre Schwangerschaft daran, einen Sprachkurs zu besuchen, und nach der Geburt fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Als ihr Baby fast ein Jahr alt war, hatte sie noch keine Frauenarztpraxis aufgesucht, obwohl sie gerne mit einer Gynäkologin gesprochen hätte. Ihre fehlenden Deutschkenntnisse hielten sie davon ab, einen Termin zu vereinbaren.

Umfassender rechtlicher Gesundheitszugang für dokumentierte Geflüchtete

Maissa ist eine von 36.251 Frauen, die zwischen 2015 und 2023 in Österreich als schutzberechtigt eingestuft wurden (Bundesministerium für Inneres 2024). In Österreich haben Asylwerber:innen ab dem Zeitpunkt des Asylantrags Zugang zu denselben Einrichtungen und Dienstleistungen wie andere Leistungsempfänger:innen im öffentlichen Gesundheitssystem. Sie erhalten rasch eine elektronische Gesundheitskarte (e-Card) und ihre Versicherungsbeiträge sowie Selbstbeteiligungsbeiträge bei Medikamenten werden in der Grundversorgung abgedeckt. Im Fall eines positiven Asylbescheids sind Versicherungsbeiträge von der Mindestsicherung gedeckt, wenn eine Person ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann (Bachner et al. 2018; Knapp 2019).

Die Situation von undokumentierten Personen, die ohne einen legalen Aufenthaltsstatus in Österreich sind, unterscheidet sich davon wesentlich. Sie sind nicht krankenversichert und können lediglich eine kostenlose Notfallversorgung in Anspruch nehmen. Andere Gesundheitsleistungen müssen sie aus eigener Tasche bezahlen oder sie müssen auf besondere Angebote für Nichtversicherte zurückgreifen (Rosenberger et al. 2018; Stiller/Humer 2020), in Wien beispielsweise vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, von AmberMed, vom Neunerhaus und vom Louisebus der Caritas.

Abgelehnte Asylwerber:innen, die aus humanitären oder anderen Gründen nicht abgeschoben werden können, erhalten medizinische Leistungen nach Ermessen der österreichischen Behörden. Ihre Abschiebung kann sich wegen einer Erkrankung (Amtsärzt:innen müssen Abgeschobene für flugtauglich erklären) oder auch fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland verzögern (Küffner 2022; Rosenberger et al. 2018).

Praktische Barrieren und strukturelle Probleme

Trotz des rechtlich umfassenden Gesundheitszugangs für Asylwerber:innen und schutzberechtigte Geflüchtete in Österreich verhindern praktische Barrieren manchmal ihre Versorgung. Sprachschwierigkeiten und fehlende psychologische Unterstützung wurden dabei als besonders dringende Probleme identifiziert (Kohlenberger et al. 2019; Leitner et al. 2019). Außerdem sind strukturelle Probleme im Gesundheitssystem für diese Gruppe besonders spürbar. In Wien gibt es eine generelle Knappheit an kassenfinanzierten Psychotherapieplätzen sowie an gynäkologischen und kinderärztlichen Praxen mit Kassenverträgen. Das zwingt Patient:innen oftmals, für Behandlungen bei Wahl- oder Privatärzt:innen zu bezahlen (Parlament Österreich 2024). Diese finanzielle Möglichkeit steht vielen geflüchteten Frauen nicht zur Verfügung. So entstehen unter anderem Risiken für deren reproduktive Gesundheit. Maissa wurde bei anderen ärztlichen Terminen von ihrem Mann begleitet, der für sie übersetzte. Weil sie im oben beschriebenen Fall das sensible Thema Verhütung aber selbstständig und ohne ihn bei einer Gynäkologin besprechen wollte und niemand anderen zum Übersetzen hatte, erhielt sie nicht die notwendige Versorgung.

Gesundheitsfaktor Lebenssituation

Neben dem rechtlichen und praktischen Zugang zu leistbarer medizinischer Versorgung braucht es für ein gesundes Leben für geflüchtete Frauen auch den Abbau von gesellschaftlichen Strukturen, die sie ausgrenzen. Maissa erklärte, dass sie sich besonders gesund und glücklich fühlt, wenn sie Deutsch lernt. Ihr Fall verdeutlicht, wie eng das persönliche Wohlbefinden mit der Lebenssituation in Österreich verbunden ist (Spahl in Vorbereitung), indem sie ihre Gesundheit buchstäblich mit ihren Deutschkenntnissen gleichsetzte.

Für ein gesundes Leben ist gesellschaftliche Teilhabe wesentlich. Diese kann jedoch aufgrund von Isolierungserfahrungen während und nach der Schwangerschaft, fehlender Kinderbetreuung sowie bei geflüchteten Frauen aufgrund von Sprachbarrieren, fehlenden sozialen Netzwerken und wegen Erfahrungen von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt (Freedman 2016; Mengesha et al. 2018) stark eingeschränkt sein. Zudem erleben muslimische Frauen mit Hijab regelmäßig Diskriminierung (Sauer 2022), das Wohlbefinden von Schwarzen Frauen wird von Erfahrungen von Rassismus und Objektifizierung ihrer Körper beeinträchtigt (Stuhlhofer 2021) und Weiße geflüchtete Frauen aus der Ukraine werden aufgrund der historischen Ausbeutung osteuropäischer Frauen als Arbeitskräfte, vor allem im Kontext von Sexarbeit und Leihmutterschaft, stigmatisiert (Shmidt/Jaworsky 2022).

Informelles Versorgungsnetz in Wien

In Wien existiert eine Art „informelles Netz“, das Barrieren, Problemen und Ausgrenzungen entgegenwirkt. Generell gibt es eine dichte Infrastruktur an Gesundheitsangeboten mit einer hohen Konzentration an Ärzt:innen, die eine Vielzahl von Sprachen sprechen. Dies ermöglicht die Auswahl in Bezug auf Sprachkenntnisse und bietet die Möglichkeit, Diskriminierung bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen aktiv zu vermeiden. Beispielsweise stellen Sozialarbeiter:innen in Asylunterkünften Listen mit Ärzt:innen, mit denen Bewohner:innen gute oder schlechte Erfahrungen gemacht haben, zur Verfügung.

Vor allem Frauen tauschen sich auch in sozialen Medien und Gruppen, beispielsweise für Mütter aus Syrien, aus. Außerdem engagieren sich viele Gesundheitsarbeiter:innen durch ihr tägliches Handeln. Sie schließen bestehende Lücken durch solidarisches Handeln (Spahl/Prainsack 2022) und bieten spezialisierte, muttersprachliche Angebote für geflüchtete Frauen an, wie zum Beispiel AFYA, FEM, FEM Süd, Frauen*beratung Wien des Diakonie Flüchtlingsdienstes, Fremde werden Freunde und Hemayat.

Inklusion über das Gesundheitssystem

Vor dem Hintergrund der oftmals von praktischen und diskursiven Ausgrenzungen geprägten Lebensrealität von geflüchteten Menschen hat der frühe umfassende rechtliche Zugang zum Gesundheitssystem in Österreich eine inklusive Bedeutung. Dieser sticht im internationalen Vergleich hervor. In anderen Ländern mit ebenso stark ausgebauten öffentlichen Gesundheitssystemen wie Deutschland (Gottlieb/Schülle 2021; Menke/Rumpel 2022) oder Finnland (Tuomisto et al. 2019) erhalten Asylwerber:innen medizinische Leistungen in einem Parallelsystem und werden nur bei dringendem Bedarf an das allgemeine Gesundheitssystem verwiesen.

In Österreich kommt der e-Card eine besondere Rolle zu. Für geflüchtete Menschen ist sie das erste Ausweisdokument, das sie nicht als Asylwerber:innen ausweist, sondern als Versicherte gemeinsam mit allen anderen inkludiert. Auch Praktiken wie das selbständige Arrangieren von Gesundheitsterminen, den Weg zu Arztpraxen finden, Beziehungen zu Gesundheitspersonal aufbauen und das gemeinsame Warten mit anderen Patient:innen fördern – vor dem Hintergrund sonstiger Ausgrenzungserfahrungen – Teilhabe (Spahl 2023a, 2023b).

Vor allem für Frauen, die im Asylprozess tendenziell häufiger fachärztliche und psychologische Versorgung aufsuchen als Männer (Kohlenberger et al. 2019) und die sowohl durch konkrete Ausgrenzungen als auch durch diskursive Zuschreibungen von Verletzlichkeit und Passivität oft in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt werden, kann hier ein Stück weit Empowerment und Selbstermächtigung stattfinden. So war es Maissa auch wichtig, alleine zu Arztterminen gehen zu können, damit sie ihr neues Leben in Wien selbstständig führen kann.

Problemen entgegentreten und Teilhabe fördern

Insgesamt bedarf es verstärkter Schutzmaßnahmen für besonders vulnerable undokumentierte geflüchtete Frauen. Aber auch für dokumentierte geflüchtete Frauen sollten praktische Barrieren und strukturelle Probleme angegangen werden. Gesundheitsarbeiter:innen, die diesen Herausforderungen durch solidarisches Handeln entgegentreten, benötigen mehr Unterstützung und der Anstieg des wahl- und privatärztlichen Sektors sollte kritisch hinterfragt werden, da er versteckte Kosten verursacht. Zudem verdient die Ermöglichung wichtiger Teilhabe, insbesondere für Frauen, durch den frühzeitigen und umfassenden Einschluss von geflüchteten Menschen in das Gesundheitssystem mehr Beachtung.

Literatur- und Quellenangaben

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Wanda Spahl ist Sozialwissenschaftlerin. Als Postdoc Researcher im Fachbereich Biomedizinische Ethik und Ethik des Gesundheitswesens, Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, forscht sie zur Gesundheit von marginalisierten Gruppen. Von 2018 bis 2022 war sie Universitätsassistentin am Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien. Zu Gesundheit und Flucht arbeitet sie seit 2016 in der Türkei und Österreich. Sie setzte sich mit dem Thema auch in der künstlerisch-wissenschaftlichen Kooperation „Geography of Ghosts“ auseinander, die in Bern und Wien ausgestellt wurde.