4.2 Mireille Ngosso: Für eine inklusive Gesundheitsversorgung
Mit vier Jahren bin ich mit meinen Eltern aus der Demokratischen Republik Kongo geflohen. An die Flucht selbst habe ich keine Erinnerungen, doch die ersten Jahre in Österreich waren von Unsicherheit und neuen Eindrücken geprägt.
Als Frau mit Fluchterfahrung kenne ich die Herausforderungen im Gesundheitssystem für Frauen sehr gut. Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede und fehlendes Wissen über die eigenen Rechte erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung und verzögern die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und Behandlungen.
Studien des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen (BMGF) sowie der Statistik Austria zeigen, dass Frauen mit Fluchtgeschichte häufiger an psychischen und körperlichen Erkrankungen leiden, seltener Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen und ein höheres Risiko für Krankenhausaufenthalte haben.
Um den Zugang zum Gesundheitssystem für geflüchtete Frauen zu verbessern, sind verschiedene Maßnahmen notwendig: Mehr Dolmetschdienste, kulturelle Sensibilisierung des Personals, umfassende Informationsangebote, Zugang zu Traumatherapie und geschlechtsspezifische Sprechstunden sind wesentliche Schritte. Auch die Einbeziehung von Frauen mit Fluchterfahrung in die Entwicklung von Gesundheitskonzepten ist wichtig, um ihre spezifischen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Als praktizierende Allgemeinmedizinerin habe ich auch die andere Seite des Gesundheitssystems kennengelernt. Allerdings wurde ich im Studium nicht ausreichend auf die Herausforderungen vorbereitet.
Die Curricula orientieren sich noch immer an weißen cis-männlichen Mittelschichtpatienten mit 80 Kilogramm. Daraus resultiert ein Mangel an Wissen über den Verlauf von Erkrankungen oder die Wirkung von Medikamenten und Therapieverfahren an Frauen mit Fluchterfahrung, was ein großes Problem darstellt. Wichtig wäre es auch, im Studium den Umgang mit Rassismus in der Medizin zu lehren. Während einerseits BIPOC („Black, Indigenous, and other People of Color“) in der Forschung nicht ausreichend repräsentiert sind und dies aufgrund fehlender Diagnoseinstrumente fatale Folgen haben kann, sind Vorurteile und vermeintliche genetische Unterschiede immer noch fester Bestandteil der akademischen Lehre sowie von wissenschaftlichen Modellen.
Aus dem Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) „Rassismus und seine Symptome“ (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung 2023) geht ganz klar hervor, dass bei jeder dritten migrantischen Frau deren Beschwerden nicht ernst genommen werden und sie deshalb schon einmal den Arzt beziehungsweise die Ärztin gewechselt hat. Das trifft vor allem auf Personen zu, die sich selbst als muslimisch identifizieren: Fast 40 Prozent der muslimischen Frauen und knapp mehr als jede dritte Schwarze Patientin fühlen sich von Ärzt*innen nicht ernst genommen.
Etwa ein Drittel muslimischer Frauen und Männer erlebt nach eigenen Angaben eine Benachteiligung im Gesundheitswesen. Schwarze Frauen berichten mit 38 Prozent noch häufiger von Diskriminierungserfahrungen. Außerdem sagen zwei Drittel muslimischer und Schwarzer Frauen sowie 61 Prozent asiatischer Frauen, dass sie von Ärzt*innen und anderem Gesundheitspersonal ungerechter oder schlechter als andere Personen behandelt worden seien.
Diese Erkenntnisse bestärken mich in meinem Engagement für eine inklusive und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus.
Neben der Verbesserung des Zugangs zum Gesundheitssystem ist es wichtig, die Integration von Frauen mit Fluchterfahrung in die Gesellschaft zu fördern. Bildungsangebote, berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten und kulturelle Veranstaltungen können ihnen helfen, sich in ihrem neuen Umfeld wohlzufühlen und ein aktives Mitglied der Gemeinschaft zu werden.
Es ist entscheidend, dass wir als Gesellschaft zusammenarbeiten, um geflüchteten Frauen die Unterstützung und die Möglichkeiten zu bieten, die sie benötigen, um ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für geflüchtete Frauen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Politik, Gesundheitswesen, Zivilgesellschaft und die geflüchteten Frauen selbst müssen zusammenarbeiten, um nachhaltige Verbesserungen zu erreichen. Dies ist nur durch einen umfassenden und intersektoralen Ansatz möglich.
Literatur- und Quellenangaben
Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Hrsg.) (2023): Rassismus und seine Symptome. Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors. Berlin, bezogen unter: rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Rassismus_Symptome/Rassismus_und_seine_Symptome.pdf (Zugriff: 27.5.2024)
Mireille Ngosso, Gemeinderätin und Abgeordnete des Wiener Landtags für die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), ist eine engagierte Stimme in politischen und sozialen Fragen, insbesondere im Kampf gegen Rassismus, im Gesundheitswesen und für Feminismus. Als Ärztin bringt sie ihre Perspektiven in ihre Arbeit ein. Ngosso, geboren im Kongo, kam im Alter von vier Jahren nach Österreich, wo sie nicht nur ihre medizinische Ausbildung absolvierte, sondern sich auch zur Aktivistin und Politikerin entwickelte. Seit 2010 ist sie Mitglied der SPÖ und setzt sich für Gesundheit, Soziales, Frauen und Bildung ein. Ngosso ist eine prominente Stimme im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung und war Mitorganisatorin der #BlackLivesMatter-Bewegung in Wien. Sie ist Co-Autorin des Buchs „Für alle, die hier sind“.