4. Gesundheitsversorgung

4.6 Christine Okresek: Medizinische Betreuung von unbegleiteten Mädchen – Angebote des Tralalobe-Hauses der Frauen Hollabrunn

Die unbegleiteten minderjährigen Mädchen im Haus der Frauen kommen aktuell aus Somalia, Syrien, Afghanistan, Äthiopien und Burundi. Ankommen nach zumeist beschwerlichen und langen Fluchtwegen bedeutet häufig eine gewisse Stabilität und dass sich der Körper nun entspannen darf. Die Gewissheit, dass die Jugendlichen zumindest bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben können, erlaubt ihnen, sich nun auch mit ihrer Gesundheit auseinanderzusetzen.

Wir beobachten, dass die Mädchen bereits in der Ankunftsphase mit zahlreichen Gesundheitsfragen auf die Betreuerinnen zukommen. Die Frage nach ärztlicher Behandlung erfolgt zusammen mit der nach Schule meist sofort. Viele unserer Klientinnen leiden unter körperlichen Schmerzen, die entweder auf der Flucht oder aber schon in ihrem Herkunftsland aufgetreten sind und nicht versorgt wurden. Oft sind es alte, unzureichend behandelte Verletzungen wie Knochenbrüche oder Verletzungen, die von Unfällen oder Misshandlungen herrühren und in Österreich erstmals von einem Arzt oder einer Ärztin untersucht werden. Auch Zahnschmerzen werden häufig bereits zu Anfang thematisiert, da die Mädchen oft über längere Zeit nicht oder noch nie in Zahnbehandlung waren.

In der Regel lassen wir alle Jugendlichen im Haus der Frauen ärztlich untersuchen. Ein gesamter Bodycheck gibt den Mädchen viel Sicherheit. In sehr vielen Fällen weist ein erstes Blutbild einen Eisen- und/oder Vitamin-D-Mangel aus, der unkompliziert zu behandeln ist. Oft leiden die Mädchen aber auch unter diffusen Schmerzen, deren Ursachen nicht leicht zu finden sind und die vermutlich im psychosomatischen Bereich liegen. Wir legen großen Wert darauf, den Mädchen zu zeigen, dass uns alle ihre Anliegen wichtig sind und sie darin ernst genommen werden. Wir beobachten, dass Mädchen im Unterschied zu jungen Burschen eher bereit sind, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenngleich bei der Vorbereitung viel Einfühlungsvermögen und Aufklärungsarbeit notwendig sind. Vorab ist die Frage zu klären, ob es sich um einen Arzt oder eine Ärztin handelt, was bei der Untersuchung genau gemacht wird, welche Körperstelle untersucht wird, welche Kleidungsstücke dafür abgelegt werden müssen, wohin die behandelnde Ärztin greift. Wir haben vor Ort einen ausgezeichneten männlichen Hausarzt und bereiten die Mädchen beim ersten Besuch stets gut darauf vor. Sollte es für manche Mädchen nicht passen, suchen wir eine Ärztin auf. Wir begleiten die Mädchen zu allen relevanten medizinischen Terminen, sofern sie das wollen. Und wir nehmen eine große Scheu der Mädchen wahr, Körperregionen, die in der Öffentlichkeit meist bedeckt sind, zu entblößen. Dabei ist häufig alles oberhalb des Knies bereits schambesetzt.

Aus diesem Grund ist es höchst wichtig, die Ärzt*innen sorgsam auszuwählen. Als besonders wertvoll hat sich die Zusammenarbeit mit der Klinik Ottakring erwiesen, und zwar mit der Migrationsambulanz und der Gynäkologie in Kooperation mit FEM Süd. Kultursensibles Vorgehen und den Mädchen immer die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, was mit ihrem Körper passiert, stärkt das Vertrauen und bildet eine tragfähige Beziehung, die vieles möglich macht. Unter Umständen auch operative Eingriffe, für die es umfangreiche Aufklärung braucht. Die Angst vor einem Eingriff und vor einer Narkose ist groß. Mitunter verzichten sie deshalb auf eine Operation. Häufig hängt die Bereitwilligkeit, sich einer Behandlung zu unterziehen, davon ab, wie lange die Mädchen in unserer Einrichtung sind und ob es bereits gelungen ist, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Je mehr Zeit die Mädchen bis zu ihrer Volljährigkeit haben, desto größer sind die Erfolgsaussichten. Das gilt für die physische wie die psychische Gesundheit, wobei der Weg, sich psychisch auf Hilfe einzulassen, noch viel länger ist.

Empfehlungen

  • Sorgfältige Wahl der Ärzt*innen – Achtung auf Alltagsrassismus oder strukturellen Rassismus

  • Achten auf männliche und weibliche Ärzt*innen

  • Gut vorbereiten, was bei der Untersuchung gemacht wird

  • Mädchen zu Ärzt*innen begleiten

  • Dolmetscherinnen per Telefon beiziehen

  • Die Mädchen entscheiden, was gemacht wird

  • Sich Zeit nehmen

Christine Okresek studierte an der Universität Wien Französisch und Kroatisch und arbeitete 20 Jahre in Südosteuropa im Bildungsbereich. Seit 2015 ist sie in Österreich im Flüchtlingsbereich tätig. Von 2015 bis 2020 war sie Leiterin eines Wohnhauses für unbegleitete minderjährige Mädchen und Buben in Wien Ottakring. Seit 2020 leitet sie das Tralalobe-Haus der Frauen in Hollabrunn, in dem Frauen mit Kindern und unbegleitete Mädchen wohnen.