6.3 Nina Andresen: Freiwilligenarbeit für geflüchtete Frauen in Wien – Leistungen und Potenziale zivilgesellschaftlichen Engagements
Unmittelbar nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 zeigte sich, dass Wien auf eine große Fluchtbewegung nicht vorbereitet war. Noch weniger vorbereitet war man auf die Ankunft von Geflüchteten, die sich demografisch deutlich von jenen anderer Fluchtbewegungen unterschieden: Rund zwei Drittel waren weiblich, 40 % Kinder unter 14 Jahren (ÖIF 2023: 6).
Und so waren es nach 2015 erneut zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die Versorgungsstrukturen schafften und federführend in der Betreuung von Vertriebenen waren – sei es im Humanitären Ankunftszentrum, wo Train of Hope ehrenamtlich die Erstversorgung von 135.000 Vertriebenen organisierte, an Bahnhöfen oder in Familien, die Vertriebene aufnahmen.
Doch wodurch zeichneten sich die Leistungen der Zivilgesellschaft in der Akutphase der Fluchtbewegung aus und wie steht es um die Potenziale von Freiwilligenarbeit in der langfristigen Unterstützung von geflüchteten Frauen?
Neben der Schnelligkeit, mit der Unterstützungsangebote etabliert wurden, waren es v. a. die Empathie und das Verständnis für die Bedürfnisse geflüchteter Frauen, die das zivilgesellschaftliche Engagement kennzeichneten. Während staatliche Akteur*innen wortreich erklärten, was in der Versorgung von Geflüchteten alles nicht vorgesehen war, kompensierte die Zivilgesellschaft selbstlos Lücken staatlicher Versorgung, die sich im Zuge dieser weiblichen Fluchtbewegung deutlicher zeigten als je zuvor.
Für zivilgesellschaftlich Engagierte stand außer Frage, dass Feldbetten in Hallen keine adäquate Unterbringung für Frauen und Kinder darstellten, dass das Anbieten ausreichender Mahlzeiten für Menschen auf der Flucht eine Frage gelebter Humanität war oder dass die Versorgung mit Menstruationsartikeln und Windeln kein optionales Angebot, sondern eine absolute Notwendigkeit darstellte. So deckte die Zivilgesellschaft mit Spenden Grundbedürfnisse, organisierte private Wohnmöglichkeiten und engagierte sich über persönliche und finanzielle Grenzen hinaus, um menschenwürdige Erstversorgung sicherzustellen. Auch zwei Jahre später füllen Freiwillige staatliche Versorgungslücken wie nie zuvor, um Frauen und Kindern ein würdiges Leben in Wien zu ermöglichen.
Die Leistungen der Zivilgesellschaft sind zweifelsohne etwas, worauf alle Beteiligten stolz sein können – zeigen sie doch, was zu leisten Wiens Bürger*innen imstande sind. Sie weisen jedoch auch auf die Kehrseite der Medaille hin. Denn die Notwendigkeit dieses Engagements ist Ausdruck einer „Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage“ – jener Tendenz staatlicher Akteur*innen, Versorgungslücken nicht durch Finanzierung professioneller Angebote zu füllen, sondern freiwilliges Engagement auszunutzen, um vorhandene Lücken zu schließen (van Dyk et al. 2021: 448).
Das Missverständnis von Zivilgesellschaft als kostenlose Leistungserbringerin für die öffentliche Hand verkennt dabei vieles: Erstens, dass Unterstützungsangebote, die von zeitlichen und finanziellen Ressourcen Freiwilliger abhängig sind, genauso schnell verschwinden können, wie sie entstanden sind, und somit nicht nur eine Chance, sondern auch ein Risiko für die soziale Sicherheit in der Stadt darstellen. Zweitens, dass zivilgesellschaftliche Unterstützung viel zu oft alternativlos ist und somit Abhängigkeiten schafft, die die Vulnerabilität Geflüchteter unnötig erhöhen. Und drittens, dass das eigentliche Potenzial von Freiwilligenarbeit darin liegt, die Rolle von Geflüchteten nachhaltig zu verändern – weg von passiven Hilfeempfänger*innen, hin zu aktiven Mitgestalter*innen. Ein einzigartiges Potenzial, das nur Freiwilligenarbeit bietet; das sich jedoch nicht entfalten kann, solange die vorhandenen Ressourcen zur Deckung von Grundbedürfnissen eingesetzt werden müssen.
Nach einer weiteren großen Fluchtbewegung, die Wien ohne zivilgesellschaftliches Engagement wohl kaum so gut bewältigt hätte, stellt sich die Frage, ob es für Wien nun nicht an der Zeit ist, tatsächlich als Partner und Verbündeter der Zivilgesellschaft zu agieren sowie freiwilliges Engagement nachhaltig zu fördern und mit den nötigen Ressourcen auszustatten. Denn was wäre in dieser Stadt erst möglich, wenn zivilgesellschaftliches Engagement sein Potenzial voll entfalten kann?
Literatur- und Quellenangaben
ÖIF – Österreichischer Integrationsfonds (2023): Integration in Zahlen. Ukrainische Bevölkerung in Österreich, bezogen unter: integrationsfonds.at/fileadmin/content/AT/monitor/OEIF-Laender-Factsheet_Ukraine.pdf (Zugriff: 10.5.2024)
van Dyk, Silke / Boemke, Laura / Haubner, Tine (2021): Solidarität mit Geflüchteten und Fallstricke des Helfens. In: Berliner Journal für Soziologie, 31/445-473, bezogen unter: doi.org/10.1007/s11609-021-00457-3 (Zugriff: 10.5.2024)
Nina Andresen ist Vorstandsmitglied des Vereins Train of Hope – Flüchtlingshilfe und engagiert sich seit 2015 für Menschen mit Fluchterfahrung. Sie koordinierte u. a. die Erstversorgung von Geflüchteten am Wiener Hauptbahnhof im Herbst 2015 sowie im Humanitären Ankunftszentrum Wien im Jahr 2022 und leitete verschiedene Integrationsprojekte. Ihr Fokus liegt auf zivilgesellschaftlicher Unterstützung von Geflüchteten und partizipativen Integrationsprojekten. Aktuell leitet sie Train of Hope’s Community Center für Vertriebene aus der Ukraine in Wien.