6.1 Lilian Hagenlocher: Frauenspezifische Fluchtgründe im Asylverfahren
Während weltweit ungefähr gleich viele Frauen wie Männer aus ihren Herkunftsländern fliehen müssen, lag der Anteil weiblicher Asylsuchender in der Europäischen Union im Jahr 2023 nur bei knapp über 30 %. Gründe dafür sind kaum vorhandene legale Einreisealternativen (mit Ausnahme von Familienzusammenführung für Kernfamilienmitglieder) und Gefahren wie sexuelle Übergriffe auf der Flucht, die Frauen in besonderem Ausmaß treffen.
In Österreich wurde in den vergangenen drei Jahren maximal ein Viertel der Asylanträge von weiblichen Asylsuchenden gestellt, demgegenüber entfielen im Jahr 2023 über 40 % aller Asylgewährungen auf Frauen und Mädchen, was heißt, dass sie im Vergleich zu Männern proportional häufiger als Flüchtlinge anerkannt werden (dies liegt allerdings auch am hohen Anteil von Frauen, die
im Kontext eines Familiennachzugs Asyl erhalten haben). Der Großteil der Schutzgewährungen erging an Frauen aus Syrien, Afghanistan, Somalia und dem Iran. Über die Asylgründe werden hingegen keine Statistiken geführt. Asylentscheider:innen und Rechtsberater:innen zufolge sind in Österreich insbesondere die folgenden geschlechtsspezifischen Fluchtgründe relevant: verwandtschaftsbasierte Gewalt, Frauenhandel, weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung und Auflehnung gegen traditionelle Geschlechternormen im Herkunftsland. Sie sollen im Folgenden kurz aus rechtlicher Perspektive beleuchtet werden, wobei einleitend zu erwähnen ist, dass Personen dann als Flüchtlinge anerkannt werden, wenn sie eine begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) genannten Gründe (Politik, Religion, Rasse, Nationalität und die Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“) glaubhaft machen können.
Verwandtschaftsbasierte Gewalt
Da es sich bei Gewalt in der Familie (wie bei vielen frauenspezifischen Fluchtgründen) um Verfolgung durch private Akteur:innen handelt, sind für die Beurteilung des Asylantrags die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Herkunftsstaats gegen solche Übergriffe zu prüfen. Wird diese verneint, erhalten Asylsuchende in der Regel einen Schutzstatus. In einem kürzlich ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu häuslicher Gewalt gegen Frauen in der Türkei stellte dieser zudem klar, dass aufgrund der geschlechtsspezifischen Komponente der Verfolgung nicht nur (der mit weniger Rechten verbundene Status) „subsidiärer Schutz“, sondern Asyl gewährt werden muss, wenn die betroffene Gruppe (in diesem Fall also: Frauen) „in ihrem Herkunftsland … aufgrund geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen als andersartig betrachtet werden“ und somit eine bestimmte soziale Gruppe bilden. Zudem stellte der EuGH fest, dass auch in Asylverfahren das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (Istanbul-Konvention) und die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) zu beachten sind.
Frauenhandel
Frauen, die in Österreich von Menschenhändler:innen ausgebeutet wurden, können nach § 57 Asylgesetz den Aufenthaltstitel „besonderer Schutz“ erhalten, wenn eine Ermittlungsbehörde ihren Status als Opfer oder Zeugin von Menschenhandel bestätigt. Zudem ist im Asylverfahren zu prüfen, ob eine potenzielle Gefahr für Leib und Leben bei Rückkehr mit einem der GFK-Gründe und insbesondere einer andersartigen Behandlung von (oftmals stigmatisierten) Menschenhandelsbetroffenen zusammenhängt – je nachdem ist subsidiärer Schutz oder Asyl zu gewähren. Die bundesweite Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (LEFÖ-IBF) bietet in Wien psychosoziale und juristische Prozessbegleitung für Betroffene an.
Weibliche Genitalverstümmelung
Jegliche Verstümmelung der weiblichen Genitalien stellt eine schwere Menschenrechtsverletzung und somit eine Verfolgungshandlung dar. In der österreichischen Judikatur ist anerkannt, dass „unbeschnittene Mädchen“ als „bestimmte soziale Gruppe“ Asyl erhalten können. Auch bereits beschnittene Asylwerberinnen können Flüchtlingsschutz benötigen, insbesondere im Falle der Gefahr weiterer Genitalverstümmelung, etwa anlässlich einer Eheschließung oder Geburt. Das in Wien angesiedelte Frauengesundheitszentrum FEM Süd koordiniert die Betreuung betroffener Frauen österreichweit. Während Genitalverstümmelung in vielen Regionen auf der Welt praktiziert wird, stellen im Kontext des Asylverfahrens Antragstellerinnen aus Somalia die größte Gruppe dar.
Zwangsverheiratung
Ein Eingriff in das Menschenrecht auf freie Wahl des Ehepartners weist schutzrelevante Verfolgungsintensität auf, zumal es im Rahmen von Zwangsehen in der Regel zu sexueller Gewalt kommt. Asylrechtlich kann hier sowohl auf die Auflehnung gegen die Zwangsehe als politischen Akt auch auf die Zugehörigkeit zur Gruppe der Personen, die sich aus einer Zwangsehe gelöst haben, abgestellt werden. Der Wiener Verein Orient Express bietet Beratung und Schutz für betroffene Frauen und Mädchen an und dient auch als bundesweite Koordinationsstelle gegen Zwangsheirat und Verwandtschaftsgewalt.
Auflehnung gegen traditionelle Geschlechternormen
Frauen und Mädchen, die sich mit ihrem Verhalten oder ihren Ansichten den Geschlechternormen ihres Herkunftslands widersetzen, können der österreichischen Judikatur zufolge Anspruch auf Flüchtlingsschutz haben. Zum einen, weil sie eine dem Staat gegenteilige politisch-religiöse Einstellung haben können (oder ihnen dies von ihren Verfolger:innen unterstellt wird), aber auch, weil gerichtlich anerkannt wurde, dass Frauen, die ihre Grundrechte im Rahmen ihrer Lebensführung in Österreich zum Ausdruck bringen, eine „bestimmte soziale Gruppe“ bilden. Dem Tragen eines Kopftuchs darf in diesem Zusammenhang übrigens keine maßgebliche Relevanz beigemessen werden.
Geschlechtssensible Asylverfahren
Damit weibliche Asylsuchende ihre Fluchtgründe umfassend darlegen können, bedarf es geschlechtssensibler Asylverfahren. Dazu gibt das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR in seinen Richtlinien zu geschlechtsspezifischer Verfolgung detaillierte Empfehlungen ab. Nach § 20 des österreichischen Asylgesetzes haben Asylsuchende, die einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend machen, das Recht, dass ihre Befragung von einer weiblichen Person durchgeführt wird. In der Praxis kommt es allerdings vor, dass Frauen davon keinen Gebrauch machen können, weil sie sich nicht trauen, sexuelle Übergriffe auch nur im Ansatz zu thematisieren. Viele Asylsuchende empfinden es aufgrund von Hemmschwellen wie Stigma und Scham zudem auch vor einer weiblichen Entscheiderin und Dolmetscherin als sehr herausfordernd, geschlechtsspezifische Verfolgung geltend zu machen. Zudem ist ihnen die Asylrelevanz frauenspezifischer Fluchtgründe nicht immer bewusst. Eine kostenlose Rechtsberatung und -vertretung im Verfahren, wie sie etwa in einem Projekt der Caritas Wien für von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffene Asylsuchende angeboten wird, kann maßgeblich dazu beitragen, dass Fluchtgründe von Frauen und Mädchen im Asylverfahren frühzeitig geltend gemacht und auch entsprechend gewürdigt werden. Ein Ausbau solcher Angebote ist daher – neben der Sensibilisierung von Asylentscheider:innen – ein wichtiger Schritt für den Schutz asylsuchender Frauen und Mädchen.
Lilian Hagenlocher ist Juristin und Translationswissenschaftlerin und seit 2014 in der Rechtsabteilung von UNHCR Österreich tätig, wo sie bei Fortbildungsveranstaltungen für Rechtsberater:innen, Richter:innen und Referent:innen des BFA vorträgt. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit der Situation von Frauen und Kindern im Asylverfahren und führt in diesem Zusammenhang u. a. Gespräche und Fokusgruppendiskussionen mit Asylsuchenden in Österreich durch.