6.4 Banan Sakbani: Von Damaskus nach Wien – Verlorene Kämpfe und gemeisterte Herausforderungen
Vertreibung
Ich wurde in Damaskus geboren und erlebte eine friedliche Kindheit in der Eigentumswohnung meiner Eltern zusammen mit meinen beiden älteren Brüdern, bis im Jahr 2011 der Krieg in Syrien begann. Unser Leben veränderte sich drastisch, mit positiven wie auch negativen Aspekten. Nach drei Jahren im Krieg, in verschiedenen Teilen von Damaskus, ständigen Umzügen, neuen Schulen und einem Leben voller Angst, Verlust und politischer Verfolgung endete schließlich die Flucht innerhalb des eigenen Landes.
Istanbul
Wir folgten meinen Brüdern nach Istanbul, wo ich meine Schulausbildung fortsetzte, als Dolmetscherin arbeitete und schließlich meinen Pflichtschulabschluss mit Auszeichnung absolvierte. Unser Alltag verlieh uns eine neue Identität – die des Flüchtlings. Das Leben dort war für viele nicht leistbar und auch für uns nur durch harte Arbeit der ganzen Familie zu bewältigen. Im Sommer reparierte ich Fahrräder, während meine Brüder in einer Brotfabrik arbeiteten und meine Mutter einen Lingerie-Shop eröffnete. Es war ein schwieriger und herausfordernder Neuanfang für sie, die zuvor als Bereichsleiterin für budgetäre Angelegenheiten im syrischen Verteidigungsministerium tätig war und nun einen kleinen Laden in Istanbul führte. Die Asylpolitik in der Türkei erwies sich auf allen Ebenen als gescheitert, selbst die Güter und Unterstützungen, die für geflüchtete Menschen vorgesehen waren, wurden ihnen vorenthalten. Angesichts der aussichtslosen Lage beschlossen mein Bruder und mein Vater, sich der großen Flüchtlingsbewegung nach Europa anzuschließen.
Österreich
In Steyr angekommen, mussten sie Asyl beantragen, da ihr Schlepper sie nicht wie versprochen in die Niederlande brachte. Einige Jahre später und mit einem positiven Bescheid und einem Antrag auf Familienzusammenführung zogen sie nach Wien. Nach drei Jahren Wartezeit auf das Visum mussten meine Mutter und ich meinen zweitältesten Bruder zurücklassen, der aus der Familienzusammenführung ausgeschlossen blieb, da er inzwischen über 18 Jahre war. Wir verließen nicht nur ihn, sondern auch das Leben, das wir in den letzten drei Jahren aufgebaut hatten. Im Dezember 2017 kamen meine Mutter und ich in Wien an, wo mein Bruder und mein Vater bereits ungeduldig auf uns warteten. Das emotionale Wiedersehen am Flughafen Schwechat bleibt bis heute unvergesslich. Ich fand zunächst keine Schule, da mein Pflichtschulabschluss nicht anerkannt wurde, aber eine AMS-Beraterin glaubte an mich und vermittelte mir einen Platz an der AHS Anton-Krieger-Gasse im Musikzweig. Dort veränderte sich nicht nur mein Leben, sondern auch meine Sicht auf die Welt. Ich erlernte Deutsch und Französisch, nahm am mehrsprachigen Redewettbewerb SAG’S MULTI teil, wurde Preisträgerin, veröffentlichte zwei literarische Texte im Buch „Prosa für Welt“, schrieb und spielte bei einer Staatsopern-Produktion mit, trat als Gitarristin auf und maturierte schließlich mit Auszeichnung und einer vorwissenschaftlichen Arbeit, die sich intensiv mit der Integrationspolitik und ihren Auswirkungen auf die Lebenswelt von Migrant:innen und Geflüchteten auseinandersetzte.
Gegenwart & Zukunft
Alle diese aufgezählten Erfolge geschehen überraschenderweise nicht durch, sondern trotz des Systems. Für meine Integration sorgten primär meine Lehrer:innen, die nicht nur als Expert:innen in ihren Fächern anzusehen waren, sondern auch als Pädgog:innen, Krisenmanager:innen und Integrationsförder:innen zu fungieren hatten. Das System erschwert Integration. Flüchtlinge werden zum Wahlkampfthema von rechtsextremen und konservativen Parteien. Integration wird zum Politikum. „Integration“ – ein Wort, das in meiner Community keiner mehr hören kann. Medien rücken nur Negatives über geflüchtete Menschen in den Vordergrund. Jeden zweiten Tag liest man von einer Eskalation in Favoriten und selten über Erfolgsgeschichten von Menschen mit Migrations- oder Fluchtbiografie. Hart instrumentalisierte Asylpolitik und Hetze, das sind zwei Elemente, die unser Zusammenleben beeinträchtigen.
Kindern und Jugendlichen wird gesagt, dass sie nicht zu Wien gehören. Spricht man Arabisch oder Türkisch in der Öffentlichkeit, wird man schief angeschaut. Deswegen lernen wir mit der Zeit, lieber am Handy Nachrichten zu schreiben als laut zu telefonieren.
Mehrsprachigkeit wird nur dann gut bewertet, wenn man eine europäische Sprache beherrscht, finde ich heraus. Ohne den Redewettbewerb SAG’S MULTI hätte ich mein Selbstbewusstsein verloren und geglaubt, dass meine Sprachen nichts wert sind. So schnell hat Österreich vergessen, dass es das erste multinationale Parlament der Welt hatte. Acht Nationen, elf verschiedene Muttersprachen, 17 Kronländer und mehr als 30 Parteien und Gruppierungen waren im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrates vertreten. Heute sagt mir eine Dame im Geschäft, der ich für die AK-Wahl mehrsprachige Broschüren in die Hand drücken will: „Wissen Sie, was mich wundert? Jetzt sollen alle diese Sprachen in Österreich gesprochen werden.“ Zum ersten Mal verstumme ich nicht. Mittels der „deutschen Sprache“, die ich nun beherrsche, kann ich schlagfertig kontern.
So schnell hat Österreich vergessen, wer dieses Land mitaufgebaut hat. Schon die Bezeichnung „Gast“arbeiter:innen zeigt, dass das System nie die Absicht hatte, diese Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Inklusion in den Arbeitsmarkt ist auch für geflüchtete Menschen sehr schwer. Meine Mutter hat bislang trotz ihrer hochgradigen akademischen Ausbildung immer noch keinen Job gefunden: „Zu alt“, „zu geringe Deutschkenntnisse“ wird ihr beschieden. Als ob das Erlernen der Sprache im Beruf, so wie es in der Schule geschieht, keine Option wäre.
Die Debatten rund um Flüchtlingspolitik und Migration frustrieren mich. Von meinem Namen, den ich selbst schon falsch ausspreche, erzähle ich hier lieber nicht. Ich möchte nicht ständig meine Existenz, Religion und Herkunft rechtfertigen müssen. Ich wünsche mir eine Zukunft, in der junge Menschen nicht mehr für ihre Familie im Kampf mit der Bürokratie Dolmetscher:innen, fast Jurist:innen, spielen müssen.
Ich möchte einen Appell aussprechen: Lasst uns die Vielfalt, die wir in Wien haben, nicht nur anerkennen, sondern auch tatsächlich leben. Denn wenn ein Drittel der Wiener:innen beim Superwahljahr nur zuschauen darf, dann leben wir diese Vielfalt nicht. Wir behaupten sie.
Banan Sakbani wurde in Damaskus geboren. Neben ihrem Jus-Studium arbeitet sie bei der gemeinnützigen Organisation Ashoka, ist beratend im Gremium Sounding Board des Projekts Haus der Jugend der Arbeiterkammer (AK) tätig und Integrationsbotschafterin des Roten Kreuzes. Sie publizierte ihr erstes Buch „Meine Flucht und ihre Begleiterinnen“, beherrscht sechs Sprachen und versteht zusätzlich zwei weitere. Sie sprach bereits an der UNO und absolvierte Praktika bei der AK, beim Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz sowie bei der Vertretung der EU-Kommission. Zuletzt war sie als Jurorin für Arabisch beim Redewettbewerb SAG’S MULTI tätig, den sie selbst 2021/22 gewann.