1.1 Maynat Kurbanova: Keine große Sache
Das Licht der Straßenlampe warf einen tristen Schein auf den Atlas, den ich vor dem Schlafzimmerfenster studierte, während meine Geschwister, unsere Eltern, die Hühner im Stall und die streunenden Katzen im Garten schliefen. Ich ging noch zur Schule und alle meine Träume lebten durch Bücher. Sie lebten in der Dunkelheit, wenn das Metalltor unseres Hofes zugesperrt war und die Stille ihre Hand um unsere Körper legte. Tagsüber träumte ich von der Nacht. Nachts träumte ich von der Welt und von der Fremde. In meiner Vorstellung hielt ich mich an eine Welt, in der alle gleich wertvoll sind. Im sowjetischen Gefängnis meiner Kindheit schien Europa auf dem Atlas so ein Ort zu sein. Das Gelobte Land eben.
Ich dachte mich an entlegene Orte in den Zeiten, als selbst die Busfahrt nach Grozny, wenn ich meine Mutter zur Arbeit begleitete, sich wie eine Odyssee anfühlte. An einem heißen Nachmittag im Sommer begleitete ich sie wieder einmal zu einer ihrer Besorgungen in der Stadt. Wir saßen nebeneinander in einem kleinen, gelben Bus, der unruhig hin und her schaukelte. Auf dem Platz nebenan sich laut auf Russisch unterhaltende Frauen, deren schallendes Gelächter in regelmäßigen Abständen durch den Wagen fegte. Meine Mutter zeigte auf Gebäude draußen und erzählte mir über sie. Irgendwann drehte sich eine Frau aus der ersten Reihe in unsere Richtung.
„Sprechen Sie Russisch!“, sagte sie. Ihr Tonfall war schneidend. „Hier wird Russisch gesprochen!“
Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Meine Mutter, die mir damals immer so unbezwingbar wie eine Naturgewalt erschienen war, fiel in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus einem Ballon gelassen. Sie sagte nichts. Wir übten uns in leiser, demütiger Scham. Den Rest der Fahrt verbrachten wir in Stille, nur unterbrochen von den russischen Frauen. Ihr unbeschwertes Lachen ließ mein Herz jedes Mal einen Satz machen, aus Angst, noch einmal zurechtgewiesen zu werden. Ich traute mich nicht einmal mehr, in ihre Richtung zu blicken.
Als ich Jahre später zuerst nach Deutschland, dann nach Österreich flüchtete und versucht habe, mir eine neue Sprache anzueignen, war es seltsamerweise ausgerechnet dieser Augenblick aus meiner Kindheit, der mir immer wieder einfiel. Wenn ich ein Wort auf Deutsch falsch aussprach, kam das altbekannte Schamgefühl hoch, die Angst, gedemütigt zu werden. Die Angst verwirklichte sich in der Gestalt eines Beamten der Ausländerbehörde, der mich nachäffte, als ich drei Wochen nach meiner Ankunft in Deutschland das Amt aufsuchte, um mein Visum zu verlängern. Meine Dolmetscherin war krank geworden und ich musste alleine hingehen. Alle Formulare ausgefüllt, der Zweck und die Begründung des Antrags waren klar und deutlich, es ging nur darum, die Papiere einzureichen. Also ging ich hin. Von fast 500.000 Worten, die die deutsche Sprache angeblich hat, hatte ich nur ein paar Dutzend vorzuweisen. Der junge Mann hinter dem Tisch fragte mich immer wieder etwas, und nach jedem Versuch meinerseits, die Sachlage zu erklären, spottete er mich aus und äffte meine Sprache nach. Irgendwann zeigte er mit der Hand zur Tür und sagte: „Husch! Husch!“
Heute bezweifle ich, dass er einen viel größeren Wortschatz in der 500.000 Wörter reichen Sprache der Dichter und Denker besessen hat als ich. Doch das Gefühl, mich nicht gegen die Demütigung wehren zu können, das Gefühl der Scham aus dem Bus in meiner Kindheit und vor allem das Gefühl, du kannst diesem Ausgeliefertsein nicht entkommen, egal wie weit weg du flüchtest, war wieder da.
Dieses Gefühl kam auf, als ich mich einige Jahre später auf das Gespräch mit dem Lehrer meiner Tochter vorbereitete. In einem noblen Gymnasium im ersten Wiener Bezirk hatte der Deutschlehrer die Gratis-Zeitung in die Klasse gebracht, in der ein Artikel über kriminelle tschetschenische Jugendliche erschienen war. Vor der gesamten Klasse hatte der Lehrer aus dem Artikel zitiert und meiner damals elfjährigen Tochter gesagt, dass es sich darin hoffentlich nicht um ihre Cousins handelte. Ich weiß noch, wie lange ich mein Gespräch mit ihm vorbereitet hatte. Ich hatte Angst. Angst, bloßgestellt zu werden. Angst, dem Gespräch sprachlich nicht ausreichend gewachsen zu sein. Angst, dass mir vor lauter Aufregung und Unsicherheit die einfachsten Worte und Begriffe auf Deutsch nicht einfallen würden. Ich weiß noch, wie ich meine Rede vorbereitet und einstudiert hatte. Und wie ich meine beste Kleidung angezogen hatte in der Hoffnung, dass gutes Aussehen mir etwas mehr Halt geben würde.
Heute muss ich an die Mütter anderer Kinder denken, die ebenfalls tagtäglich schikaniert und verspottet werden, die aber sich nicht trauen würden, hinzugehen und die Lehrer*innen zur Rede zu stellen. Wegen mangelnder Deutschkenntnisse. Oder aus Angst, dass ihre Kinder nach so einem Gespräch noch schlechter behandelt werden würden. Dass es viele sind, durfte ich nach und nach erfahren, als ich als Trainerin für Diversität und Identität unzählige österreichische Schulen besuchte oder mit jungen Menschen mit migrantischen Biografien außerhalb der Schulen arbeiten durfte.
Ich hatte in Tschetschenien und Russland als Journalistin gearbeitet. Zweisprachig aufgewachsen, hatte ich mich mein ganzes vorheriges Leben mit der Sprache beschäftigt. Sprache war meine Arbeit, mein Werkzeug, mein Lebensunterhalt. Nach der Flucht musste ich sprechen und schreiben neu lernen. Wie ein Kind, das zum ersten Mal auf den Füßen gehen lernt. Die Aussicht, eines Tages wieder auf den eigenen zwei Beinen zu stehen, war zu weit weg.
Und das mit einem Kind. Mit einer Tochter, die zum Zeitpunkt der Flucht vier Jahre alt und auf mich angewiesen war. Auf eine Mutter, die nicht gelernt hatte zu fallen, die sich den Zusammenbruch während Armut, Krieg und Chaos nicht erlaubt hatte, um dann mit Anfang 30 zu realisieren, dass ihre nächsten Jahre daraus bestehen würden, jedes Mal wieder aufs Neue zu stürzen. In diesem Dauerzustand des freien Falls musste ich mich um mein Kind kümmern. Das ist keine große Sache. Alles banal und alltäglich. Es in den Kindergarten bringen, abholen, kochen, putzen, Postwege erledigen, Formulare ausfüllen, mit Pädagog*innen sprechen. Doch all das ohne Sprache, ohne Freundinnen und Freunde, ohne all diese Omas und Opas, die einem so gerne unter die Arme greifen, wenn man mal Unterstützung braucht. Ohne Erfahrungen im neuen System. Wenn deine ganze bisherige Expertise unnütz ist und das ganze Konstrukt aus Familie und Freund*innen, jahrzehntelang aufgebaut, auf einmal wegfällt, wird auch das Ausfüllen von Formularen zur Qual. Jeder Tag ist gleich. Eng, einsam, lang.
Die ersten Jahre nach der Flucht verliefen wie im Traum. Als befände ich mich in einer Art Dämmerzustand. Wenn ich an sie zurückdenke, weiß ich, dass ich in jenen Tagen sehr wohl geschrieben, gelernt, gearbeitet und gelebt habe. Dass es mich gegeben hat. Aber es fühlte sich so an, als hätte ich mich durch den Alltag bewegt wie die Kuscheltiere meiner Tochter, die sprachen oder mit den Armen und Beinen zuckten, wenn man einen bestimmten Knopf drückte. Als würde ich die Dinge verrichten, weil ich wusste, dass sie erledigt werden müssen, aber nicht mehr, wieso das so ist. Die Isolation, das Fremdsein, die Einsamkeit. Die Einsamkeit trug mich durch die Welt, umgab mich in der Wohnung und lag auf meiner Haut, bis sie in jede Faser meines Körpers drang. Ich merkte es, wenn länger kein Anruf kam, wenn die Rechnungen nur mich etwas angingen, wenn ich Aufträge ablehnen musste, weil es niemanden gab, der auf mein Kind aufpassen würde, während ich verreiste. Trotz der engagierten Menschen, die mich nach dem Ankommen unterstützten, erinnere ich mich an den brennenden Wunsch, jemanden zu haben, der mir die Last abnehmen würde. An den Wunsch, nicht nur hinzufallen wie ein Kind, sondern auch gehalten zu werden wie eines. Ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt wie in den ersten Jahren nach der Flucht. Keine Einsamkeit, die du verspürst, wenn du behütet und umsorgt bist und dir dennoch etwas Vages, etwas Unaussprechliches fehlt. Vielmehr war es eine Einsamkeit, an die ich tagtäglich erinnert wurde durch all die Strukturen und Menschen und Verbindungen, die ich mit einem Schlag zurücklassen musste.
Im Tschetschenien meiner Kindheit wollte ich hinaus in die Welt, die es bis dahin nur in meinem Atlas und in den Erzählungen in den Büchern gab. Aber selbst nach all den Jahren, nachdem die Isolation und die Unwirklichkeit in weite Ferne gerückt sind, gibt es Augenblicke, in denen ich aufwache und nicht mehr weiß, wo und warum ich bin.
Maynat Kurbanova, Autorin und Journalistin, wurde in Tschetschenien geboren und arbeitete nach ihrem Studium für russische und internationale Medien. Wegen ihrer kritischen Berichte musste sie das Land verlassen und kam 2004 als Stipendiatin des deutschen PEN-Zentrums nach Deutschland. Seit 2010 lebt sie in Wien und arbeitet bei der Soziale Initiative Gemeinnützige GmbH. Sie ist in der Extremismusprävention als Trainerin und Ausbildnerin tätig. Im Kunstprojekt „Häfnausblicke“ leitet sie eine Schreibwerkstatt für straffällige Jugendliche in Justizanstalten. Sie bietet Workshops, Seminare, Vorträge und Kunstprojekte an.