2. Bedarfsgerechte & frauenspezifische Angebote

2.6 Sophie Gunnarsson: Schwangere Frauen mit Fluchterfahrung – Leistungen des Hebammenzentrums

Flucht ist seit Jahren ein zentrales Thema. Im Jahr 2023 suchten etwas mehr als 59.000 Menschen in Österreich um Asyl an (BMI 2023). Krieg, Verfolgung und/oder wirtschaftliche Not sind meist ausschlaggebend dafür, dass Menschen fliehen. Zwangsheirat, Zwangsprostitution, Unterdrückung und FMG/C sind zusätzliche Fluchtgründe für Frauen. Sowohl bestehende Erlebnisse wie auch Erfahrungen, die während der Flucht gemacht werden, lassen sie oft vulnerabel, traumatisiert und gestresst im Ankunftsland ankommen. Gerade Frauen und vor allem Schwangere sowie Frauen mit kleinen Kindern gelten hier als besonders sensible Gruppe (UNO Flüchtlingshilfe 2024). Unter geflüchteten Frauen kommt es häufiger zu Problemen bei der Geburt, zum Beispiel vermehrt zu Frühgeburten. Diese Gruppe verzeichnet auch eine höhere Prävalenz bei postnataler Depression (Heslehurst et al. 2018; Collins et al. 2011; Satinsky et al. 2019). Aus all diesen Gründen ist eine gute Begleitung in Form von Beratung und kontinuierlicher Betreuung während der Schwangerschaft, der Geburt und der Zeit danach von enormer Bedeutung.

Eine Hebamme stellt dabei eine besonders niederschwellige Ansprechperson dar. Kontinuierliche Hebammenbetreuung möglichst durch ein und dieselbe Hebamme führt zu einer Verminderung negativer geburtshilflicher Outcomes (WHO 2022: 89). Geflüchtete Frauen fühlen sich vermehrt unsicher und ohne Kontrolle über ihre Zukunft (Rowe et al. 2023). Genau hier helfen Hebammen mit Informationen und Aufklärung auch über das – den Frauen noch fremde – Gesundheitssystem. Sie vernetzen und stärken so die Frauen in ihrer eigenen Gesundheitskompetenz (Kasper et al. 2022).

An diesem Punkt setzt das Hebammenzentrum, eine geförderte Familienberatungsstelle, mit seinen Angeboten an. Es bietet kostenlose Hebammenberatungen für alle Frauen und Familien an, die auch mit Dolmetscher*in erfolgen können, um die Sprachbarriere möglichst gering zu halten. Das derzeitige Sprachenangebot umfasst Arabisch, Farsi/Dari, Somali, Ukrainisch, Russisch, Englisch – angebotene Sprachen werden möglichst an aktuelle Situationen angepasst.

Im Zuge des „Pilotinnenprogramms“ bietet das Zentrum allen Frauen (auch Frauen mit Fluchterfahrung) eine kostenlose Schwangerschaftsbegleitung an. Die Frau trifft bis zu vier Mal dieselbe Hebamme, die mit ihr verschiedene Themen bespricht, auf aktuelle Fragen eingeht, Vorsorgeuntersuchungen durchführt und in der Vernetzung weiterhilft. Je nach Sprachmöglichkeit stehen Dolmetscher*innen zur Verfügung oder wird die Betreuung von einer muttersprachlichen Hebamme durchgeführt. Die Hebamme hilft auch in der Vermittlung einer Wochenbettbetreuung und trifft die Frau nach der ersten Zeit, wenn das Kind bereits geboren wurde, noch ein- bis zweimal.

Im Rahmen des Programms bietet das Hebammenzentrum einmal wöchentlich eine offene, kostenlose Gruppe für Frauen mit ihren Babys an. Im Anschluss gibt es weiters eine kostenlose Gruppe für Schwangere, die sich vernetzen wollen, eine Frage an eine Hebamme haben oder die Herztöne ihrer Babys hören wollen. Aktuelle Termine gibt es auf der Website des Hebammenzentrums.

Seit Herbst 2022 besteht das Projekt „Muttersprache: Frau“, gefördert vom Fonds Soziales Wien (FSW). Die Hebammenleistungen in Form von Einzelberatungen, Workshops in den diversen Unterkünften bzw. Organisationen sowie laufende Frauengruppen und Hebammensprechstunden richten sich an Frauen jeden Alters in der Wiener Grundversorgung. Alle Angebote sind sowohl für die Frauen wie auch für die Organisationen kostenlos. Hauptfokus liegt in der Informationsweitergabe, der Stärkung und Vernetzung der Frauen sowie in der Förderung ihrer Gesundheitskompetenz und bei Bedarf in der Vermittlung an weitere Angebote. Thematisch deckt das Projekt von Schwangerschaft bis Beikost alles ab und umfasst auch die Themen österreichisches Gesundheitssystem, Familienplanung, Schwangerschaftskonflikt, weiblicher Zyklus, erste Blutung, Beckenboden und Menopause.

Da der Zugang zum Gesundheitssystem oft voller Hindernisse ist, profitiert besonders diese vulnerable Gruppe von der Niederschwelligkeit von Hebammen sowie der aufsuchenden Arbeit vor Ort. Hier kommen Gesundheitskompetenz, traumasensible Beratung und Empowerment aus einer Hand zusammen.

Literatur- und Quellenangaben

Bundesministerium für Inneres (2024): Asyl. Statistikdatenblatt für das Jahr 2023, bezogen unter: bmi.gv.at/301/Statistiken (Zugriff: 15.4.2024)

Collins, Catherine H. / Zimmermann, Cathy / Howard, Louise M. (2011): Refugee, asylum seeker, immigrant women and postnatal depression: rates and risk factors. In: Arch Women’s Ment Health, 14/3-11, bezogen unter: doi.org/10.1007/s00737-010-0198-7

Heslehurst, Nicola / Brown, Heather / Pemu, Augustina / Coleman, Hayley / Rankin, Judith (2018): Perinatal health outcomes and care among asylum seekers and refugees: a systematic review of systematic reviews. In: BMC Med., 16/1/89, bezogen unter: doi.org/10.1186/s12916-018-1064-0

Kasper, Anne / Mohwinkel, Lea-Marie / Nowak, Anna Christina / Kolip, Petra (2021): Maternal health care for refugee women – a qualitative review. In: Midwifery, 104/103157, bezogen unter: doi.org/10.1016/j.midw.2021.103157

Rowe, Anna / Bhardwaj, Minakshi / McCauley, Mary (2023): Maternal multimorbidity – experiences of women seeking asylum during pregnancy and after childbirth: a qualitative study. In: BMC Pregnancy Childbirth, 23/1/789, bezogen unter: doi.org/10.1186/s12884-023-06054-x

Satinsky, Emily / Fuhr, Daniela C. / Woodward, Aniek / Sondorp, Egbert / Roberts, Bayard (2019): Mental health care utilization and access among refugees and asylum seekers in Europe: A systematic review. In: Health Policy, 123/9/851-863, bezogen unter: doi.org/10.1016/j.healthpol.2019.02.007

UNO Flüchtlingshilfe (2024): Gesundheit von Flüchtlingsfrauen, bezogen unter: uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/fluechtlingsschutz/fluechtlingsfrauen/frauengesundheit (Zugriff: 15.4.2024)

WHO (2022): WHO recommendations on antenatal care for a positive pregnancy experience (2016, updated 2022), bezogen unter: iris.who.int/bitstream/handle/10665/250796/9789241549912-eng.pdf?sequence=1 (Zugriff am 15.4.2024)

Sophie Gunnarsson ist Hebamme und Stillberaterin (IBCLC). Im Hebammenzentrum – Verein freier Hebammen ist sie mit der fachlichen Leitung des Projekts „Muttersprache: Frau“ betraut. Sie war zwei Jahre im Sahlgrenska Universitetssjukhuset Göteborg, Schweden, tätig und bietet als selbständige Hebamme Vor- und Nachsorge sowie Stillberatung und Geburtsvorbereitungskurse an.