2. Bedarfsgerechte & frauenspezifische Angebote

2.3 Maria Bernhart und Hilde Wolf: „Wer schnell hilft, hilft doppelt“ – Wie die Frauengesundheitszentren in Wien auf aktuelle Krisen reagieren

Die Frauengesundheitszentren in Wien stehen für niederschwellige, ganzheitliche und kultursensible Frauengesundheitsförderung. Angesiedelt in Kliniken des Wiener Gesundheitsverbundes sind sie Drehscheibe und Anlaufstelle für Frauen und Mädchen in schwierigen Lebenssituationen ebenso wie Kontaktstelle für Akteur*innen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Neu hinzugekommen ist seit 2023 das FEM Med Frauengesundheitszentrum am Reumannplatz.

Mittels aufsuchender und niederschwelliger Strategien erhalten jene Frauen und Mädchen Hilfestellung, die sonst aufgrund zahlreicher Barrieren nicht erreicht werden – das betrifft insbesondere vulnerable Frauengruppen mit einer Migrations- und Fluchtbiografie. In einer Studie von Kohlenberger (2019) wurden die subjektive Gesundheit von Geflüchteten, das Vorliegen psychischer Erkrankungen sowie bestehende Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung erhoben und mit Daten der österreichischen Gesundheitsbefragung (Statistik Austria 2019) verglichen. Geflüchtete Frauen leiden in höherem Ausmaß an psychischen Erkrankungen als Männer und berichten über eine schlechtere Gesundheit als Frauen in der Gesamtbevölkerung. Zu traumatischen Erlebnissen vor oder während der Flucht kommen bei Frauen Belastungen hinzu, wie Rollenkonfusion, soziale Isolation und Rückkehrillusion. Diskriminierungserfahrungen und unsichere Bleibeperspektiven können das Risiko für Erkrankungen weiter erhöhen.

Gleichzeitig wird der Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung für Menschen mit Fluchterfahrung durch viele Faktoren erschwert, wie z. B. Informationsdefizite, kulturelle und sprachliche Barrieren, Terminkonflikte, lange Wartezeiten und fehlendes Wissen über Ärzt*innen (Kohlenberger et al. 2019; Leitner et al. 2019; Machleidt 2009). Anspruch der Frauengesundheitszentren ist es, Frauen und Mädchen schnell, unbürokratisch und gezielt die Hilfestellung zukommen zu lassen, die sie brauchen.

Gemeinsam mit Kooperationspartner*innen der Stadt Wien gelingt dies immer wieder, zuletzt für Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine. Das 2019 durch das Institut für Frauen- und Männergesundheit etablierte und den Fonds Soziales Wien finanzierte Projekt NEDA, das gender- und kultursensible Angebote für Grundversorgungsbezieher*innen mit psychischen Problemen umfasst, konnte bereits innerhalb eines Monats nach Kriegsbeginn in der Ukraine um einen „Projektableger“ mit Angeboten in ukrainischer Sprache erweitert werden. Nach umgehender Bereitstellung finanzieller Ressourcen wurden langjährige Netzwerke im Bereich der Flüchtlingshilfe genützt, um ein professionelles Berater*innen-Team, teils mit eigener Fluchtgeschichte, aufzubauen. Konzeptuell sowie strukturell konnte auf dem Erfahrungswissen und den Kompetenzen der Frauengesundheitszentren im Bereich der niederschwelligen, kultur- und traumasensiblen Arbeit mit geflüchteten Menschen aufgebaut werden. Durch die teils „nachgehende“ Arbeitsweise und das Anknüpfen an die Bedürfnisse und die Lebensrealität der geflüchteten Menschen konnte diese Unterstützung auch umgehend bei den Zielgruppen „ankommen“.

Im Rahmenkonzept zur Implementierung niederschwelliger psychosozialer Angebote für Menschen mit Fluchterfahrung im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (Fellinger et al. 2022) und von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization 2017) wird Ähnliches festgehalten: Um geflüchtete Menschen erreichen zu können, ist es notwendig, vernetzt zu arbeiten, schnell leicht zugängliche Angebote zu etablieren, aufsuchend und niederschwellig vorzugehen und damit Vertrauen herzustellen.

Handlungsimpulse für eine psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Migrationsbiografie postulieren auch die zwölf „Sonnenberger Leitlinien“: Diese empfehlen etwa den Einsatz multikultureller Teams, eine entsprechende Ausbildung aller beteiligten Berufsgruppen in der Versorgungslandschaft und eine Unterstützung bei der Bildung von Selbsthilfegruppen (Machleidt et al. 2005).

Für den Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention werden im Dossier „Migration und Gesundheit“ des Österreichischen Integrationsfonds (Mayer 2011) folgende Erfolgsfaktoren angeführt, mit dem Ziel, Gesundheitskompetenz und Selbstbestimmung von Frauen zu stärken: Neben einer partizipatorischen Orientierung der Angebote müssen diese in den Alltag eingebettet sein sowie „in der Nähe“, kultursensibel, kostenlos und in der Erstsprache stattfinden.

Angelehnt an die Qualitätskriterien für Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2005) haben die Frauengesundheitszentren Empfehlungen für Frauen mit und ohne Migrationserfahrungen abgeleitet. Zentral sind neben allen bisher genannten Erfolgsfaktoren innovative und flexible Zugangswege, frauengerechte Rahmenbedingungen, ein nicht stigmatisierendes Setting sowie das Einbinden bestehender „Communitys“. Wichtig ist dabei in der Arbeit von „Frau zu Frau“, dass neben der Berücksichtigung prioritärer Probleme ein Augenmerk auf „Wohlfühl-Faktoren“ gelegt wird, das heißt, auch Freude, Spaß, Entspannung und soziale Beziehungen gefördert werden.

Literatur- und Quellenangaben

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung/BZgA (2005): Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten. Gesundheitsförderung konkret, Band 5, Köln: BZgA

Fellinger, W. / Fronek, H. / Gaiswinkler, S. / Grabenhofer‐Eggerth, A. / Kampmüller, S. / Klingler‐Katschnig, D. / Köck, A. / Krob, L. / Krois, D. / Nik Nafs, C. / Weigl, M. (2022): Rahmenkonzept zur Implementierung niederschwelliger psychosozialer Angebote für Menschen mit Fluchterfahrung. Ergebnisbericht. Im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz. Wien: Gesundheit Österreich GmbH

Kohlenberger, J. / Buber-Ennser, I. / Rengs, B. / Leitner, S. / Landesmann, M. (2019): Barriers to health care access and service utilization of refugees in Austria: Evidence from a cross-sectional survey. In: Health Policy, 123/9/833-839, bezogen unter: doi.org/10.1016/j.healthpol.2019.01.014

Leitner, S. / Landesmann, M. / Kohlenberger, J. / Buber-Ennser, I. / Rengs, B. (2019): The Effects of Stressors and Resilience Factors on Mental Health of Recent Refugees in Austria. In: wiiw Working Paper, No. 169, Wien: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, bezogen unter: wiiw.ac.at/the-effect-of-stressors-and-resilience-factors-on-mental-health-of-recent-refugees-in-austria-p-5105.html (Zugriff: 14.3.2023)

Machleidt, W. (2009): Interkulturelle Psychiatrie/Psychotherapie und Integration psychisch kranker MigrantInnen. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Migration und Gesundheit. Dossier, 34-37, bezogen unter: heimatkunde.boell.de/sites/default/files/dossier_migration_und_gesundheit_2.pdf (Zugriff: 14.5.2024)

Machleidt, W. / Garlipp, P. / Calliess, I. T. (2005): Die 12 Sonnenberger Leitlinien – Handlungsimpulse für die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Migranten. In: Assion, H.-J. (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg: Springer, 215-230

Mayer, J. (2011): Migration und Gesundheit: Mögliche Wege aus dem Präventionsdilemma. In: ÖIF-Dossier 17, Wien: Österreichischer Integrationsfonds

Statistik Austria (2019): Österreichische Gesundheitsbefragung. Hauptergebnisse des Austrian Health Interview Survey (ATHIS) und methodische Dokumentation im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK)

World Health Organization (2017): Promoting the health of refugees and migrants. Draft framework of priorities and guiding principles to promote the health of refugees and migrants, bezogen unter: apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA70/A70_24-en.pdf (Zugriff: 14.5.2024)

Maria Bernhart studierte Psychologie an der Universität Wien und absolvierte eine postgraduelle Ausbildung zur Klinischen und Gesundheitspsychologin. Ab 2004 war sie im Frauengesundheitszentrum FEM in der Semmelweis-Frauenklinik beschäftigt, seit 2013 hat sie die geschäftsführende Leitung des Frauengesundheitszentrums FEM – nun in der Klinik Floridsdorf – inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind psychische Gesundheit und Gesundheitsförderungsprojekte von sozial benachteiligten Frauen, Seminartätigkeit, Lehrtätigkeit. Sie ist im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung.

Hilde Wolf ist Psychologin, Klinische und Gesundheitspsychologin sowie zertifizierte Arbeitspsychologin mit einem MBA-Abschluss in Sozialmanagement. Von 1992 bis 1999 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Frauengesundheitsforschung. Sie baute das Frauengesundheitszentrum FEM Süd im Kaiser-Franz-Josef-Spital (nun Klinik Favoriten) auf und hat seit 1999 dessen Leitung inne. Sie ist Vizepräsidentin des Berufsverbandes Österreichischer Psychologinnen und Psychologen und Mitglied des Psychologenbeirats im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind psychische Gesundheit und Gesundheitsförderung von sozial benachteiligten Frauen, insbesondere Migrantinnen.