2.5 Iryna Grilj: Als Vertriebene in Österreich - perspektivo, eine Beratungsstelle der Volkshilfe Wien für Menschen aus der Ukraine
Der 24. Februar 2022 ging als einer der grausamsten und traurigsten Tage in die jüngere Geschichte Europas ein. Der Krieg trieb Millionen von Menschen in die Flucht: gepackt von Angst und Ungewissheit. Bilder von überwiegend Frauen mit Kindern und älteren Personen mit Enkelkindern füllten Seiten praktisch aller Massenmedien weltweit – wie eine surrealistische Theaterszene entfalteten sich vor Augen der erstaunten Europäer*innen die präzedenzlose Vertreibung, Entwurzelung und Entzweiung ukrainischer Familien.
Bis zu 200.000 Menschen passierten im März 2022 täglich die Grenzen der EU. Im Einklang reagierten die EU-Bürger*innen sowohl persönlich als auch politisch mit Hilfe und Unterstützung. Die Vertriebenenverordnung wurde reaktiviert und garantierte den Geflüchteten unbürokratisch das Bleiberecht und den sofortigen Zugang zum medizinischen System sowie zum Arbeitsmarkt. Strukturen mussten erst entwickelt werden.
Zu Beginn überwiegend privat, wurden die Hilfen für Ukrainer*innen sukzessive systematisiert. Zunächst eröffneten Quartiere inkl. Notquartiere, dann Beratungsstellen, Schulplätze wurden zur Verfügung gestellt, gezielte Deutschkurse angeboten. Die meisten stellten sich jedoch auf lediglich ein paar Wochen Krise ein. Langsam wurde die Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende zur Verzweiflung; Lebenssituation und Bedarfe der Geflüchteten änderten sich.
Die Beratungsstelle perspektivo der Volkshilfe Wien ist eine durch den Fonds Soziales Wien (FSW) geförderte Einrichtung. Hier bekommen Ukrainer*innen Beratungen zu ihrer Lebenssituation und ihren Perspektiven in Wien. Ca. 80-85 % der Klient*innen sind alleinstehende Frauen mit Kindern, Familien, deren Angehörige beeinträchtigt sind, und Senior*innen. perspektivo bietet individuelle Beratungen, realisiert Seminare, Workshops und andere Gruppenangebote für Vertriebene mit wertvollen Informationen und Skills für eine erfolgreiche Inklusion in Österreich. Doch viele Hürden stehen den Ukrainer*innen nach wie vor im Weg.
Vor allem Frauen mit Kindern im Alter von ungefähr 14 Jahren sehen sich dem Problem gegenüber, dass Letztere nicht gut genug Deutsch lernen konnten und ihnen weitere Bildungswege versperrt bleiben. Ein höherer Lehrer*innenschlüssel für die Förderung geflüchteter Kinder würde eine Inklusion der Jugendlichen garantieren und der Gesellschaft eine gesunde und stabile Zukunftsperspektive bieten. Dass jugendliche Ukrainer*innen keiner Ausbildungspflicht unterliegen, führt zu Problemen bei der Suche nach Lehrstellen. Resignation und Stagnation bei der Ausbildung, das Fehlen einer Peergroup und die Unmöglichkeit, realistische Ziele zu setzen, verursachen immer schärfer werdende psychische Belastungen für Jugendliche und ihre Familien, die in unserem Kontext zu Herausforderungen für deren Mütter werden.
Problematisch ist für viele Frauen ein Besuch und Fortschritt beim Deutschkurs. Mehrfache Aufgaben im familiären Gefüge erschweren eine konsequente Teilnahme an Fördermaßnahmen. Der Bedarf nach Kursen mit Kinderbetreuungsangebot ist offensichtlich.
Die Grundversorgung (GVS) ist bestimmt ein Fortschritt bei der Unterstützung geflüchteter Personen. Doch wurde die GVS als temporärer Schutz geschaffen. Inzwischen verlängerte die EU den Vertriebenenstatus für ein drittes Jahr. Ein langfristiges Leben in der GVS führt Mütter, die mit Kriegsbeginn zu Alleinverdienerinnen und -erzieherinnen wurden, zu Entscheidungen, illegalen Beschäftigungen nachzugehen und sich in zweifelhafte und prekäre Anstellungsverhältnisse zu begeben, da offiziell nur ein geringer Zuverdienst möglich ist.
Physische Schwäche, Krankheiten oder erhöhter Betreuungsbedarf älterer Frauen erfordern eine Unterstützung im Alltag. Unsichere Zukunftsaussichten sowie schlechte physische Verfassung führen zu psychischen Problemen. Während Krankenhäuser in der Regel einen Zugriff auf Dolmetschleistungen haben, stehen Ordinationen vor sprachlichen Herausforderungen bei der Behandlung ihrer Patient*innen.
Die Aussicht auf ein baldiges Kriegsende bleibt illusorisch – doch hinter dem Steuer eines „dicken ukrainischen SUV“ sitzt meistens eine alleinstehende Frau, die ihre Kinder, Eltern oder beeinträchtigte Angehörige versorgt …
Iryna Grilj studierte Germanistik an der Universität Czernowitz, Ukraine, wo sie auch promovierte. Neben der Forschung und Lehrveranstaltungen an der Universität organisierte sie viele Projekte im wissenschaftlichen und (inter)kulturellen Bereich und verfügt über jahrelange Erfahrung als Kulturmanagerin. Seit 2012 lebt und arbeitet sie in Wien im Bereich Flüchtlingshilfe und Migration und leitet seit November 2023 die Einrichtung perspektivo, Beratungsstelle für ukrainische Vertriebene bei der Volkshilfe Wien.