2. Bedarfsgerechte & frauenspezifische Angebote

2.8 Christian Ellensohn: Bedürfnisse älterer Menschen mit Fluchthintergrund erkennen – Neue Aufgaben für die Häuser zum Leben

Mit dem Beginn der Kriegshandlungen in der Ukraine wurden im Jahr 2022 rund 26.350 Menschen in Wien mit „Vertriebenenstatus“ in die Grundversorgung aufgenommen (Fonds Soziales Wien 2023). Im Vergleich zu Menschen im Asylverfahren, der bisher primären Zielgruppe der Grundversorgung, kam der Großteil der Vertriebenen aus der Ukraine im Familienverband nach Österreich. Hier gibt es nicht wenige Drei-Generationen-Familien, oftmals Mutter mit Kind und einem Großelternteil. Damit ist in den bisher zwanzig Jahren der Grundversorgung nun erstmals auch ein nicht unwesentlicher Anteil von Pensionist*innen bzw. Menschen über 60 Jahren in Betreuung.

Flucht und Migration, besonders wenn sie aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen im Herkunftsland erfolgen, stellen für Menschen eine potenziell traumatische Erfahrung und Krisensituation dar. Für ältere Menschen sind eine Flucht und ein Neubeginn in einem anderen Land erfahrungsgemäß schwierig und der Wunsch nach einer Rückkehr ist besonders groß. Die Ungewissheit über den Ausgang und die Dauer des Krieges stellen eine zusätzliche psychische Belastung dar.

Ältere Menschen mit Fluchthintergrund haben in der Regel spezifische Bedürfnisse, die es zu berücksichtigen gilt. Dies betrifft insbesondere folgende Aspekte:

1)Gesundheitlicher Aspekt: Ältere Menschen haben tendenziell mehr gesundheitliche Einschränkungen, der Zugang zu medizinischer Versorgung, Pflege und Gesundheitsdiensten ist wichtig.

2)Sozialer Aspekt: Ältere geflüchtete Menschen können sich aufgrund von Sprachbarrieren, kulturellen Unterschieden und fehlender sozialer Einbindung isoliert fühlen.

3)Wohnsituation: Ältere Geflüchtete benötigen oftmals barrierefreie Unterkünfte, die ihre Mobilität erleichtern. Entsprechende Hilfsmittel, wie z. B. Pflegebetten, Haltegriffe bei Duschen usw., sind notwendig.

4)Sprachlicher Aspekt: Aufgrund eingeschränkter Mobilität kann sich der Spracherwerb im Gastland schwierig gestalten, dezentral gelegene Sprachkurse erschweren eine Teilnahme. Die Lebensumstände nach einer Flucht wie auch altersbedingte Einschränkungen wirken sich negativ auf das Erlernen einer neuen Sprache aus.

5)Ernährungsaspekt: Ältere Menschen haben oftmals spezielle Anforderungen bzgl. ihrer Ernährung. Der individuelle Bedarf an Selbst- oder Fremdverpflegung ist festzustellen.

In der Betreuung ist es zunächst notwendig, die individuellen Bedürfnisse anzusprechen sowie vorhandene Ressourcen, medizinische und psychotherapeutische Fragestellungen und einen allfälligen Pflegebedarf abzuklären. Dies ist erfahrungsgemäß mit einem höheren Betreuungsaufwand verbunden.

Spezielle Veranstaltungen und Formate der Zusammenkunft, wie beispielsweise regelmäßig stattfindende „Sprachcafés“ mit professioneller Begleitung, tragen zu einer unterstützenden Tagesstrukturierung bei. Aktivitäten im Rahmen von Pensionist*innenklubs sowie mit Menschen anderer Altersgruppen (z. B. Sommerfeste, Konzerte usw.) ermöglichen soziale Kontakte, bieten Kommunikationsanlässe und lassen Gedanken über eine ungewisse Zukunft zumindest vorübergehend in den Hintergrund treten.

Die Zielgruppe ältere Menschen mit Fluchthintergrund wurde bislang international kaum beachtet, obwohl sie von Flüchtlingsorganisationen und der Europäischen Union als besonders schutzwürdig eingestuft wird (Horn et al. 2020). UNHCR geht davon aus, dass der Anteil der älteren Menschen mit Fluchterfahrung aufgrund der alternden Weltbevölkerung steigen wird.

Dringend notwendig ist deshalb die systematische Schaffung von spezifischen Betreuungsangeboten für diese Zielgruppe in Betreuungseinrichtungen der Grundversorgung. Diese sollte mit einer konzeptionellen Berücksichtigung und entsprechenden Schulung von Flüchtlingsbetreuer*innen einhergehen. Zudem sollte auch das Pflege- und Betreuungspersonal in Einrichtungen für ältere Menschen hinsichtlich der spezifischen Anforderungen von Geflüchteten sensibilisiert werden.

Literatur- und Quellenangaben

Fonds Soziales Wien (2023): Geschäftsbericht 2022, bezogen unter: geschaeftsbericht.fsw.at/2022/menschlich-vielf%C3%A4ltig/ukraine (Zugriff: 8.7.2024)

Horn, Vincen / Schröer, Wolfgang / Schweppe, Cornelia (2020): Alte Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrungen. In: Aner, Kirsten / Karl, Ute (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Wiesbaden: Springer VS, 455-464

Christian Ellensohn, Studium der Psychologie und DaF/DaZ an der Universität Wien, Diplomarbeit: „Selbstkonzepte bei Flüchtlingen. Eine empirische Studie über Selbstkonzepte bei Flüchtlingen unter dem besonderen Aspekt der Selbstwirksamkeit und des Selbstwerts in Bezug auf deren Wohn-, Arbeits- und Kommunikationssituation“ (2003). Seit 1999 im Bereich der Flüchtlingshilfe in verschiedenen Organisationen und Funktionen tätig, von 2007 bis 2012 als Österreichischer Bildungsbeauftragter vom damaligen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) nach Serbien entsandt, seit 2020 Leitung der Flüchtlingshilfe bei den Häusern zum Leben.