Ein Handy zeigt die Karte der Stadt Wien, verschwommen dahinter fährt eine U-Bahn
6. Smarte City, g’scheites Wien

6.3 „Wir müssen Smartness holistisch und multidisziplinär denken“

Wojciech Czaja im Gespräch mit Maria Vassilakou

Portrait von Maria Vassilakou

Bürger-Solarkraftwerke, kommunizierende Verkehrsampeln und Strom aus Abgasen der Mülldeponie: Die Smart City Wien sei international in einigen Bereichen führend, sagt die ehemalige Planungsstadträtin Maria Vassilakou. Doch wirklich smart wäre eine noch stärkere Vernetzung mit anderen Playern wie etwa Malmö, Helsinki und Barcelona. Ein Gespräch über Marketing, Raumschiff Enterprise und den Unterschied zwischen g’scheiten und dummen Städten.

Im Juni 2019 haben Sie sich aus der Politik zurückgezogen. Wie smart fühlen Sie sich heute?

Vassilakou: Ich fühle mich weder smarter noch weniger smarter als früher. Aber die zehn Jahre in der Politik haben mich gelehrt, dass man Politik nicht nur als Politikerin machen kann. Man kann auch in anderen Berufen politisch aktiv sein.

Sie engagieren sich derzeit im Rahmen des EU-Forschungsrahmenprogramms „Horizon Europe“.

Vassilakou: Ich bin Teil des zwölfköpfigen Mission-Boards für smarte und klimaneutrale Städte. Wir arbeiten Vorschläge aus, wie die Forschungsmittel der EU am fokussiertesten und effizientesten eingesetzt werden können – also nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip wie bisher, sondern gebündelt und zielgerichtet, mit dem Ziel, bis 2030 hundert klimaneutrale Städte zu schaffen.

Wie sieht die Stadt der Zukunft aus? Wie lautet Ihre Vision?

Vassilakou: Wenn wir klimaneutrale Städte haben wollen, dann müssen wir unsere Kräfte bündeln und strategisch agieren. Die Stadt, die ich dabei vor Augen habe, ist nicht nur klimaneutral, sondern auch inklusiv, integrativ, weltoffen und vor allem grün, grün, grün. Und es ist eine Stadt, in der alle von diesen Vorzügen profitieren können – und nicht nur die paar Reichen, die sich sowieso jeden Komfort leisten können.

Gibt es Städte, die diese visionären Kriterien heute schon erfüllen?

Vassilakou: Viele! Wunderbare Vorbilder sind Kopenhagen, Stockholm, Helsinki und vor allem Barcelona. Und dann gibt es eine Vielzahl an kleineren, weniger prominenten Städten wie etwa Löwen, Groningen oder Thessaloniki. Es tut sich in Europa extrem viel, und diejenigen, die an vorderster Front Impulse und Initiativen setzen, versprühen in der internationalen Zusammenarbeit unglaublich viel Energie.

Und wo steht Wien?

Vassilakou: Wien zählt definitiv zu den Vorreitern. Wir haben in vielen Punkten international die Nase vorn. Allerdings kriegen wir von diesem globalen Wettbewerb nicht allzu viel mit, denn Wien neigt schon historisch bedingt dazu, ein bisschen selbstverliebt und selbstzufrieden zu sein, somit also auch ein bisschen verschlossen. Was unsere internationale Darstellung betrifft, gibt es Luft nach oben.

Sie waren fast zehn Jahre lang Stadträtin für Stadtentwicklung, Verkehr, Klimaschutz, Energieplanung und BürgerInnenbeteiligung. Was haben Sie aus dieser Lebensphase mitgenommen?

Vassilakou: Sehr viel Erfahrung. Ich habe die Stadt zehn Jahre lang mitgestalten dürfen, wir haben einige Erfolge erzielt, und ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass meine Projekte, meine Entscheidungen nicht allen gefallen haben. Sie haben polarisiert und zu teils heftigen Diskussionen geführt, und allein das zeigt mir, dass wir die richtigen Themen in die Hand genommen haben. Ganz persönlich kann ich sagen: Ich weiß das Privileg, eine Stadt mitregiert und für eine Stadt gearbeitet zu haben, sehr zu schätzen. Das Learning war enorm, die politische Praxiserfahrung ist wertvoll und unbezahlbar. Diese Expertise ist mein USP im Mission-Board. Diesen USP hat mir Wien geschenkt. Dafür bin ich dankbar.

Portrait von Maria Vassilakou in einer Gesprächssituation

Einer Ihrer Planungsschwerpunkte als Planungsstadträtin war der Fokus auf die Smart City. Was zeichnet denn eine g’scheite Stadt aus?

Vassilakou: Eine g’scheite Stadt ist eine, die einen möglichst sparsamen Umgang mit materiellen und energetischen Ressourcen praktiziert und zugleich den höchstmöglichen Lebensstandard für alle bietet.

Die internationale Definition von Smart City konzentriert sich vor allem auf Vernetzung, Digitalisierung und neue Technologien. Wien versteht darunter etwas anderes. Warum eigentlich?

Vassilakou: Weil Wien anders ist. Ausgehend von den stark technologiegetriebenen Aspekten haben wir auf Gemeinde- und Landesebene viel darüber diskutiert, wie wir Wiener Smartness definieren wollen, und es ist wenig überraschend, dass die sozialdemokratisch-grüne Stadtregierung zu der Übereinkunft gekommen ist, die technologische Definition mit sozialen und ökologischen Aspekten zu verbinden. Denn wenn wir die gesamte smarte Aufmerksamkeit in Digitalisierung und Technologisierung investieren und dabei außer Acht lassen, dass sich irgendwann niemand mehr das Wohnen und Leben leisten kann und dass die ökologischen Klimaziele womöglich verfehlt werden, dann ist die Stadt am Ende nicht smart, sondern dumm. Wir haben uns dafür stark gemacht, Smartness holistisch und multidisziplinär zu denken.

Multidisziplinär heißt?

Vassilakou: Bei der Erarbeitung der Smart-City-Rahmenstrategie wurden alle Ressorts und Magistratsabteilungen gebeten, Inputs und Beiträge abzuliefern. Das hat dazu geführt, dass die smarten Aspekte sehr unterschiedlicher Natur sind. Ohne jeden Zweifel führt das Umwelt-Ressort die Liste an.

Was genau setzt denn die Stadt Wien im Bereich smarter Technologien um? Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Vassilakou: Besonders hervorheben möchte ich die Bürger-Solarkraftwerke, eine Kooperation mit Wien Energie. In der Zwischenzeit hat Wien weit über 30 solcher Kraftwerke. Die Abwärme dieser Kraftwerke wird genutzt und ins Netz gespeist. Ein weiteres Projekt beschäftigt sich mit den Gasen, die aufgrund chemischer Reaktionen auf der Mülldeponie produziert werden, und versorgt auf diese Weise weit über 1.000 Haushalte mit Strom. Auch die Bremskraft der U-Bahn wird genutzt, um als Restenergie wieder in den Kreislauf rückgeführt zu werden. Und in der Seestadt Aspern beschäftigt man sich gerade mit „Ambient Assisted Living“, also mit Konzepten und Methoden, die das Leben älterer und behinderter Menschen unterstützen.

Und im Verkehrsbereich?

Vassilakou: Eine der größten, aber zugleich unsichtbarsten Neuerungen ist die Einführung smarter Verkehrsampeln, die nicht mehr nach einer vorgegebenen Choreografie zeitlich getaktet werden, sondern die selbstständig und intelligent erkennen, wann es wo welches Verkehrsaufkommen und somit auch welchen Bedarf gibt. In diesem Bereich arbeitet Wien Leuchtet, also die MA 33 für Öffentliche Beleuchtung, eng mit der Industrie zusammen.

In Kopenhagen sind die Verkehrsampeln so programmiert, dass der selbstständige Algorithmus in allererste Linie die Radfahrer unterstützt. Alle anderen Verkehrsteilnehmer werden nachrangig behandelt. Ist so etwas in Wien auch denkbar?

Vassilakou: Ich persönlich würde mir für Wien Verkehrsampeln wünschen, die die Fußgänger bevorzugen – und zwar im Rahmen einer modernen Technologie, die verkehrsflussabhängig reagiert und die Intervalle selbst regelt.

Die Kopenhagener Verkehrsampeln wurden weltweit in den Medien abgehandelt. Über die smarten Technologien in Wien ist vergleichsweise wenig bekannt. Warum eigentlich?

Vassilakou: Eine gute Frage! Und die Antwort darauf tut mir, ehrlich gesagt, ein wenig weh. Städte wie Malmö, Kopenhagen und Barcelona sind längst schon mit eigenen Agenturen auf dem internationalen Parkett unterwegs, um sich in die Diskussion einzubringen und das Know-how international zu vermarkten und zu verkaufen – oder, besser noch, gegen anderes Know-how einzutauschen. Auf diesen Zug ist Wien bislang leider noch nicht aufgesprungen.

Inwiefern tragen all diese Lösungen, die Sie aufgezählt haben, konkret zum Klimaschutz bei? Und inwiefern handelt es sich dabei um Marketing?

Vassilakou: Noch handelt es sich bei all diesen Maßnahmen um Pilotprojekte, die theoretisch bereits weit entwickelt sind und die nun erstmals in der Praxis auf Herz und Nieren geprüft werden. Von einem tatsächlichen ökologischen Beitrag werden wir dann sprechen können, wenn sie auf einer breiteren Ebene zum Einsatz kommen. Und was das Marketing betrifft: Ja, definitiv! Für den Klima- und Umweltschutz ist mir jede Werbemaßnahme recht. Aber es müssen Taten folgen.

Ein wichtiger und allgegenwärtiger Punkt in der Wiener Stadtplanung ist das enorme Bevölkerungswachstum. Welchen Beitrag kann die Smart City hier leisten?

Vassilakou: Bevölkerungswachstum heißt nicht nur Neubau von Arealen und Infrastruktur, sondern beinhaltet in der Regel auch einen Investitionsschub. Diese Kraft, diese Dynamik kann man dazu nutzen, die Stadt zu reparieren und eingespielte Normen und Kulturen gegebenenfalls zu überdenken.

Gibt es eine Stadt oder ein konkretes smartes Projekt, an dem sich Wien orientieren könnte?

Vassilakou: Ein Ansatz, den ich großartig finde, ist Barcelonas Digitalisierungsoffensive im Bereich Partizipation. Das ist eine Symbiose aus sozialer und technologischer Smartness, und zugleich ist das System so gestaltet, dass man erstens eine möglichst breite Bevölkerungsschicht erreicht und zweitens auf digitaler Ebene bis zu einem sehr hohen Grad mitpartizipieren kann. Ein toller Ansatz!

Und was war das Verrückteste, das Sie je gesehen haben?

Vassilakou: Ich war einmal in der Pekinger Verkehrsleitzentrale. Mir ist der Mund offen geblieben. Das war ein Wahnsinn: Raumschiff Enterprise! Ich habe noch nie im Leben ein so komplexes System gesehen, das in jeder einzelnen Sekunde mit Real-Life-Daten arbeitet. Da sieht man, was mit Digitalisierung alles möglich ist. Und trotzdem stehen auch in Peking alle im Stau.

Was sagt uns das?

Vassilakou: Dass Raum keine unendliche Ressource ist. Und dass eine smarte Stadt nur so smart sein kann, wie ihre Bewohnerinnen und Bewohner es auch zulassen und selbst vorleben.

Wo sind wir dumm?

Vassilakou: Dumm sind wir überall dort, wo wir glauben, dass Technologie alles lösen kann. Das kann sie nicht. Dumm sind wir überall dort, wo wir Smartness nicht auch als soziale, ökologische Verantwortung sehen. Und dumm sind wir überall dort, wo wir in der Stadtplanung und Stadtentwicklung junge Menschen und Jungfamilien an den Stadtrand verbannen, ohne dass wir ihnen den Zugang zu Ressourcen ermöglichen, ohne dass wir ihnen die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellen. Das ist eine vertane Chance für die Stadt und ihre Menschen. Und wir wissen aus Erfahrung: Das wird sich bitterböse rächen! In Wien ist diese Gefahr zum Glück relativ gering. Andere Städte wie London und Paris bereuen diese Dummheit zutiefst.

Abschlussfrage: Wie g’scheit ist die Stadt der Zukunft? Wie lautet Ihre Vision für Wien anno 2100?

Vassilakou: Ich denke an eine Stadt ohne Ghettos, ohne No-Go-Areas, sondern mit Grätzeln und Quartieren, die für jeden was bieten. Und ich habe eine grüne, dicht bebaute sowie sozial und technologisch gut vernetzte Kulturmetropole vor Augen. Damit ist die smarte Stadt von morgen zugleich Spiegelbild des intelligentesten Produkts des menschlichen Geistes – des Netzwerks.

Maria Vassilakou,

geboren 1969 in Athen, zog 1986 nach Wien. Sie studierte Sprachwissenschaften und war im Zentralausschuss der ÖH tätig. 1995 wechselte sie in den Grünen Klub, zog in den Gemeinderat ein, war einige Jahre als Integrations-, Sicherheits-, Menschenrechts- und Behindertensprecherin tätig und wurde 2008 zur stellvertretenden Bundessprecherin der Grünen ernannt. Von 2010 bis 2019 war sie Wiener Vizebürgermeisterin und zugleich Stadträtin für Stadtentwicklung, Verkehr, Klimaschutz, Energieplanung und BürgerInnenbeteiligung. Zu ihren wichtigsten Projekten zählen die Vergünstigung der Jahreskarte der Wiener Linien auf 365 Euro, die Verkehrsberuhigung der Mariahilfer Straße, der Ausbau des Radwegenetzes und die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung. Im Juni 2019 legte sie alle politischen Funktionen nieder und ist seitdem im Rahmen des EU-Forschungsrahmenprogramms Horizon Europe tätig.