Ein Mann und eine Frau fahren auf ihren Fahrrädern eine Straße entlang
4. Die Stadt der voll vielen Bausteine

4.8 Von Superblocks und anderen autofreien Träumen

Portraitzeichnung von Angelika Rauch

Weltweit mehren sich sowohl Städte als auch Pilotprojekte, die ihre Autos aus dem Zentrum verbannen. Die radikale Maßnahme führt Studien zufolge zu mehr städtischer Qualität, wovon vor allem Bewohnerinnen und Fußgänger profitieren. Auch die Wiener Innenstadt könnte eines Tages autofrei werden. Erste Gehversuche gibt es bereits.

Angelika Rauch

Ich kann mich noch gut an meinen Vater erinnern, einen Mann aus der unteren Mittelschicht. Eines Tages kam er mit seinem ersten Auto nach Hause, und wir alle standen um dieses Auto und bewunderten es. Jahre später sah ich denselben Stolz wieder in seinen Augen, als er mir ein Auto schenkte, um mich in Sicherheit zu wissen, wenn ich spät abends nach Hause kam. Mein Bruder bemalte seine Ente damals rosa, blau und grün und fuhr damit durch die Stadt. Alle erkannten sein Gefährt sofort, auch ohne auf das Nummernschild zu achten.

All dies ist Teil meines Lebens, Teil der Geschichte meiner Familie. Viele gute Erinnerungen sind mit dem Automobil verbunden, einem identitätsstiftenden Alltagsgegenstand für ganze Generationen. Kein anderes lebloses Ding vermag es, Fortschritt, Wohlstand, Identität, Freiheit, Sicherheit und sogar das Gefühl der Verbundenheit mit anderen so gut zu transportieren und in sich zu vereinen wie das Auto – Emotionen einer Generation, gegen die man mit bloßer Rationalität meist nicht ankommt.

Es folgten neue Generationen, zum Glück, und jetzt bieten sich seit Langem wieder Chancen, das autozentrierte Konzept von Mobilität zu überwinden. Jüngere Menschen und nachkommende Generationen haben ihre eigenen Symbole, ihre eigenen Identitäten und ihre eigenen Vorstellungen von Freiheit. Hier eröffnen sich Möglichkeiten, (radikal) neue Wege zu gehen. Im Grunde bleibt uns angesichts der Klimakrise und den damit verbundenen massiven Emissionen (sowohl Schadstoffe als auch Lärm) in fast allen europäischen Großstädten nichts anderes übrig. Was wir jetzt brauchen, ist Mut, Ehrlichkeit und die Bereitschaft, tatsächlich wirksame Lösungen und Konzepte umzusetzen, anstatt uns mit bloßem Aktionismus und irgendwelchen Alibimaßnahmen aufzuhalten.

Eine Ampel für Fahrradfahrer zeigt Grün

Die Metropole und der Drahtesel

Wien als autofreie Großstadt. Die Idee ist nicht neu. Neu aber ist die Dimension und die Bereitschaft, in großen Lösungen zu denken: für ganz Wien, nicht nur für das Zentrum und einzelne Teile, sondern für Wien als funktionalen Raum bis ins Umland. „In einer Stadt bis zu einer Million Einwohner kann man alles zu Fuß erreichen, bis zehn Millionen reichen Fahrräder. Das hat Peking früher bewiesen. Auch in Wien lebten früher zwei Millionen Menschen ohne Auto“, sagte der emeritierte Professor Hermann Knoflacher von der TU Wien in einem Interview 2013.

Zwei Radfahrer vor der Karlskirche mit Blick durch eine Statue

Den Status quo mit kleinen Modifikationen aufrechtzuerhalten, das wird uns nicht wirklich weiterbringen. Es genügt nicht, wenn wir unser Verkehrssystem optimieren, indem wir den Autoverkehr von einer Straße auf eine andere Straße verlagern, mittels Carsharing eine Art Zweiklassengesellschaft der Mobilität schaffen oder all unsere Hoffnungen auf alternative Antriebstechnologien oder autonome Fahrzeuge setzen – und damit an dem Konzept des automobilen Menschen und einer weitgehend motorisierten Gesellschaft festhalten. Dies gilt insbesondere in der Stadt.

Urbane Räume können und müssen eine Vorreiterrolle einnehmen, wenn es darum geht, das gesamte Mobilitätssystem mehr oder weniger disruptiv zum Besseren zu verändern. Und es besteht kein Zweifel daran, dass dieser Wandel kein rein technologischer sein wird, sondern vor allem ein kultureller und politischer. Das Warten beziehungsweise das Hoffen auf neue Technologien darf keine Ausrede dafür sein, notwendige Paradigmenwechsel hinauszuzögern oder sinnvolle Maßnahmen im Hier und Jetzt zu verhindern.

Lernen von Pontevedra

Wenn wir uns europäische Agglomerationen genauer ansehen, stellen wir fest, dass es bereits viele Konzepte für Stadtteile ohne motorisierten Individualverkehr gibt. Viele dieser Bemühungen können beachtliche Erfolge vorweisen. So ist das Zentrum der spanischen Stadt Pontevedra de facto seit 20 Jahren autofrei. Lediglich Fahrzeuge von Anrainern, der öffentliche Nahverkehr und der Lieferantenverkehr dürfen in der Stadt unterwegs sein, haben aber immer Nachrang gegenüber Fußgängerinnen und Radfahrern. Die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge ist mit maximal 30 Stundenkilometern beschränkt. Die Folgen: Umsätze in der Innenstadt stiegen an, die CO2-Emissionen gingen um 70 Prozent zurück, und es gibt seit Jahren keine Verkehrstoten mehr in der Innenstadt.

Die niederländische Kleinstadt Houten ist komplett auf Mobilität mit dem Fahrrad ausgerichtet. Autos sind in der City nur noch selten zu sehen, der Autoverkehr wird über Umgehungsstraßen umgeleitet, das Zentrum ist im Alltag demgemäß eine fast autofreie Zone. In Houten gab es seit 40 Jahren keinen tödlichen Fahrradunfall, und auch hier profitierte der Einzelhandel von der Systemänderung.

Zu einem der spannendsten Konzepte, dem Urban Mobility Plan of Barcelona, der für die Jahre 2013 bis 2018 ausgearbeitet wurde, gehört das Modell der sogenannten Superblöcke. Dabei werden jeweils neun Häuserblöcke zu einem XXL-Verkehrsblock zusammengefasst. Der Rest des Konzepts ist ähnlich wie bei den zuvor genannten Beispielen: Innerhalb der Blöcke fahren nur Autos von Anrainerinnen und Lieferanten, und zwar mit maximal zehn Stundenkilometern. Die meisten Fahrzeuge werden außen herumgeleitet. Personen, die zu Fuß unterwegs sind oder Fahrrad fahren, haben innerhalb der Superblöcke Vorrang vor dem Auto. Frei gewordene Flächen – wie beispielsweise ehemalige Kreuzungen – wurden in Spielplätze oder Fußballfelder umgewandelt.

Auch hier wurden anfängliche Befürchtungen des Einzelhandels, Kundschaft zu verlieren, durch gestiegene Verkaufszahlen widerlegt. Konzepte für autofreie Zonen – entweder bereits in Umsetzung oder noch in Planung – gibt es auch in Berlin, Hamburg, Bremen, Paris, Gent, Oslo und Madrid. Und natürlich auch in Wien. Die Ziele sind im Grunde überall ähnlich, ebenso die Herausforderungen und Widerstände. Es ist essenziell, daraus zu lernen und im Gegenzug andere an unseren Erkenntnissen teilhaben zu lassen.

Mobilität oder Stillstand?

Rund 65 Prozent der Flächen in Wien gehören als Parkplätze und Straßen momentan den Autos, die im Schnitt zu 98 Prozent der Zeit nutzlos herumstehen. In der Rahmenstrategie Smart City Wien findet sich die Zielsetzung, den Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bis 2025 auf 20 Prozent zu senken. Öffentlicher Raum für alle soll auf diese Weise zurückgewonnen, aktive Mobilität gefördert werden. 2017 lag der MIV-Anteil bei 27 Prozent und jener des Zu-Fuß-Gehens bei 28 Prozent. 2018 hat der MIV-Anteil allerdings von 27 auf 29 Prozent leicht zugenommen, jener des Zu-Fuß-Gehens von 28 auf 26 Prozent hingegen abgenommen.

Die Entwicklung geht also leider in die falsche Richtung. Auch wenn es für diese Entwicklung einige mehr oder weniger plausible Erklärungsversuche gibt – etwa die gute Wirtschaftslage, die die Anzahl an PKW-Neuzulassungen im Jahr 2018 auf ein Höchstniveau ansteigen ließ, oder die Stadtentwicklung, da Wien vor allem in den Außenbezirken wächst und dort Strukturen entstehen, die dem Autoverkehr mehr Raum bieten, als dies in den Gründerzeitvierteln der Fall ist. Letztendlich aber, so viel ist sicher, ist es für das Klima und die davon betroffenen Menschen irrelevant, aus welchen Gründen Autoverkehrsanteile hoch sind oder sogar noch steigen. Das Gebot der Stunde (und der nächsten Jahre) besteht darin, diesen Trend umzukehren.

Im internationalen Vergleich befindet sich Wien in guter Gesellschaft, wenn es um das Ausprobieren neuer Ideen und die Entwicklung von Konzepten für Wohngebiete und nachhaltige Stadtentwicklung geht. In der Seestadt Aspern beispielsweise werden die Autoparkplätze am Rande des Wohngebiets in Quartiersgaragen gebündelt. Der Weg zum eigenen Auto wird damit genauso lang wie der zu einem öffentlichen Verkehrsmittel. Das wirkt sich natürlich auch auf die Verkehrsmittelwahl der Bewohnerinnen aus. Das bereits 1999 eröffnete Pilotprojekt „Autofreie Mustersiedlung“ in Floridsdorf bietet eine Alternative für jene Menschen, die bereit sind, ohne eigenes Auto zu leben. In der anfangs von vielen Akteurinnen bekämpften „Begegnungszone Mariahilfer Straße“ teilen sich heute auf 1,8 Kilometern im Zentrum Wiens Autos in Schrittgeschwindigkeit den öffentlichen Raum mit Bussen, Radfahrerinnen und Passanten.

Voll coole Strassen

Kinder spielen in einer breiten Fußgängerzone

Inzwischen gilt das Shared-Space-Konzept auch international als Musterbeispiel. Zuletzt wurden im August 2019 drei besonders von sommerlicher Hitze betroffene Wiener Straßenabschnitte für vier Wochen zur „Coolen Straße“ umfunktioniert. Während Radfahren in diesen Straßen erlaubt war, wurden PKWs jedoch temporär verbannt. Die nun freien Straßenflächen und Stellplätze wurden als Aufenthaltsbereiche an die Fußgänger und Bewohnerinnen zurückgegeben. Sie wurden mit Sitzgelegenheiten möbliert, zur Kühlung wurden Sprühnebel und einige andere Wasserquellen installiert.

Die Firma tbw research führte im Auftrag der Stadt Wien die begleitende Evaluierung durch, die gezeigt hat, dass diese neuen Stadträume positiv angenommen und überaus divers genutzt wurden. Weder der Wegfall von Stellplätzen noch das temporäre Fahrverbot konnten die hohe Akzeptanz der Maßnahmen schmälern. Diese positive Resonanz sollte Entscheidungsträgern Mut machen. Vielleicht werden sie dafür sorgen, dass die „Coolen Straßen“ schon bald aus der Pilotphase herauswachsen.

All diese Bestrebungen sind Mosaiksteine einer größeren Lösung, die Hoffnung geben und zumindest ansatzweise zeigen, dass eine Änderung unserer Mobilität beziehungsweise unseres Mobilitätssystems möglich ist. Die dafür notwendige Bereitschaft wächst bei vielen Beteiligten stetig. Auf dem Weg dorthin liegen zwar noch viele Herausforderungen, die es zu meistern gilt, und es wird selbstverständlich immer auch eine gewisse Anzahl an motorisierten Individualfahrzeugen brauchen, um den Funktionen der Stadt und den Bedürfnissen der Bevölkerung nachkommen zu können – denken wir etwa an Versorgungs- und Einsatzfahrzeuge sowie an Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Das alles sollte uns aber nicht davon abhalten, nach vorne zu denken und zu handeln.

Die vielen erfolgreichen kleinen Schritte, die bislang gesetzt wurden, sollen nicht den Blick auf das Wesentliche verstellen und nicht den Eindruck vermitteln, bereits alles Mögliche getan zu haben. Sie sollten vielmehr Mut machen, auch in größeren Dimensionen zu denken: Wien als Stadt, die den Fußgängerinnen und Radfahrern gehört – und wo Autos, unabhängig von der Antriebstechnologie, nur dort eingesetzt werden, wo sie sinnvoll und nötig sind. Meine Tochter wird in einigen Monaten 18 Jahre alt. Ihre Großmutter wollte ihr zum Geburtstag den Führerschein schenken, aber sie hat dankend abgelehnt. Danke, aber jetzt nicht, vielleicht später einmal. Ganz kann es ihre Großmutter nicht verstehen.

Ein älterer Mann fährt auf einem Citybike an einem Brunnen vorbei

Angelika Rauch,

geboren 1954 in Wien, studierte Landschaftsplanung und ist geschäftsführende Gesellschafterin der tbw research GesmbH, wo sie den Fachbereich Neue Mobilität leitet, der interdisziplinär an der Forschung, Entwicklung und Umsetzung innovativer und integrierter Mobilitätslösungen arbeitet. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied der beiden Vereine BieM Bundesinitiative eMobility Austria und WIMEN Women In Mobility & Energy Environment Network.