Fotografie mit Blick in den Himmel umgeben von einem Wohnhaus mit Fassadenbegrünung
3. Gebrauchsanleitung zur Planung einer Stadt

3.3 „Chaos ist nicht in die DNA dieser Stadt eingeschrieben“

Portrait von Rudolf Schicker

Wie funktioniert die Wiener Stadtplanung? Was sind die dringendsten Aufgaben für den Stadtentwicklungsplan der Zukunft? Und was hat die Straßenbahnlinie 18 mit dem gesamteuropäischen Verkehrskonzept zu tun? Gespräch mit dem ehemaligen Wiener Planungsstadtrat Rudolf Schicker.

Rudolf Schicker

Zehn Jahre lang waren Sie amtsführender Stadtrat für Stadtentwicklung und Verkehr. Woran in dieser Zeit erinnern Sie sich besonders gerne?

Schicker: Die beiden großen Projekte, die ich in meiner Amtszeit auf Schiene bringen durfte, waren der Hauptbahnhof und die Seestadt Aspern. Der Bahnhof ist längst abgeschlossen, die Entwicklung von 240 Hektar Stadt dauert naturgemäß etwas länger.

Ist der Hauptbahnhof so geworden, wie Sie sich das damals erhofft haben?

Schicker: Der Hauptbahnhof ist tatsächlich zu einer Drehscheibe für den internationalen Bahnverkehr geworden. Das freut mich sehr. Die Bauten entlang des Gürtels zwischen Schweizergarten und Südtiroler Platz kann man – mit Ausnahme des Erste Campus – mit Fug und Recht als Investorenarchitektur bezeichnen. Das war definitiv anders geplant. Das freut mich weniger.

Der Bahnhof hätte ursprünglich „Wien Europa Mitte“ heißen sollen.

Schicker: Das war reines Marketing. Das Feuilleton hat sich darüber lang und breit das Maul zerrissen, damit war das Projekt in der Bevölkerung verankert. Mission gelungen. Dass der Bahnhof eines Tages selbstverständlich Hauptbahnhof Wien heißen wird, war von Anfang an klar.

So strategisch geht ein Stadtplaner vor?

Schicker: Stadtplanung ist immer auch Strategie.

Sie haben das Amt im April 2001 nach der Wien-Wahl übernommen. Wo stand die Wiener Stadtplanung und Stadtentwicklung zu dieser Zeit? Was waren damals die dringenden Baustellen, die angestanden sind?

Schicker: Die meines Erachtens größte Baustelle war damals tatsächlich die Nichteinbindung Wiens in ein gesamteuropäisches Verkehrskonzept. Selbst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, so scheint mir, hat sich die Einengung durch diesen Vorhang perpetuiert – auch in den Personenbahnhöfen und in der Güterverkehrsinfrastruktur. Man erinnere sich: Die Straßenbahnlinie 18, damals Teil des transeuropäischen Netzes, war die neuralgische Verbindung auf dem Schienenweg von Paris nach Budapest. Eine weitere Baustelle war die Vorbereitung auf die Bevölkerungsentwicklung Wiens beziehungsweise die mangelhafte Planung des Wachstums dieser Stadt. Aus Beobachtungen und Prognosen war klar, dass Wien nach 2001 in einem rasanten Tempo wachsen wird. Das hat mir damals niemand geglaubt. Alle meinten: „Das hat uns Hannes Swoboda auch schon erzählt, hat alles nicht gestimmt, erzähl uns doch was Neues!“

Wie reagiert man darauf?

Schicker: Man übt sich in Geduld und wartet auf die ersten Anzeichen der Wahrheit. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, all die notwendigen Maßnahmen im Bereich Verkehr, Infrastruktur und Stadtentwicklung unter Zuhilfenahme von EU-Fördermitteln zu realisieren, denn schon kurz nach dem Go für all die Projekte kam die Finanzkrise 2008 – und damit wären viele Ideen in der Schublade verschwunden.

Ich würde gerne auf die Wiener Stadtentwicklungspläne zu sprechen kommen. 1984 wurde das Modell eingeführt. Wie würden Sie dieses Instrumentarium in wenigen Worten erklären?

Schicker: Kurz gesagt: Der Stadtentwicklungsplan umfasst und prognostiziert die räumliche Ausrichtung der Politik für die nächsten zehn Jahre.

Ist das nur eine Prognose? Oder auch ein Reagieren auf das bereits Passierte?

Schicker: Das ist es immer! Man kann zehn Jahre Zukunft nur bis zu einem gewissen Grad prognostizieren. Fehler und Unschärfen passieren immer. Sobald der nächste STEP erscheint, muss dieser auch auf all das reagieren, was in der Zwischenzeit nicht nur an geplanten, sondern auch an ungeplanten Entwicklungen passiert ist. Der erste STEP 1984 war, wie man sich vorstellen kann, in allererste Linie eine Bestandsaufnahme und eine Dokumentation der bereits getätigten Entwicklungsschritte. Beim STEP 1994 wurde schon in einem größeren Maßstab in die Zukunft geblickt.

Wojciech Czaja im Gespräch mit Rudolf Schicker

Wie würden Sie das Verhältnis von Analyse und Prognose im aktuellen STEP einschätzen?

Schicker: Das unterscheidet sich von Themengebiet zu Themengebiet. Aber natürlich überwiegt heute bei Weitem die Prognose – und zwar nicht nur die flächenbezogene Prognose, sondern Prognosen in Bezug auf Bevölkerung, Infrastrukturbedarf, Beschäftigungsentwicklung und so weiter.

Wie unterscheiden sich die einzelnen STEPs voneinander?

Schicker: Was sofort auffällt: Die ersten STEPs waren viel konkreter, viel kleinteiliger und zum Teil sogar grundstücksbezogen. Im aktuellen STEP 2025 hingegen sind nicht einmal die Siedlungsaußengrenzen erkennbar. Ganz generell würde ich sagen, dass die STEPs im Laufe der Zeit weniger planbasiert wurden. Interessant ist auch, dass sich die STEPs 1984, 1994 und 2005 zur Aufgabe gemacht haben, möglichst alles in einem Dokument zu integrieren. Beim 2025er hingegen wurden die Fachkonzepte Mobilität, Grün- und Freiraum und Produktive Stadt bewusst ausgeklammert und in eigenen Regelwerken beleuchtet.

Der STEP ist 1984, 1994 und 2005 erschienen und hieß damals auch genauso. 2010 gab es einen Fortschrittsbericht. 2015 schließlich ist der STEP 2025 erschienen. Woher der plötzliche Systembruch?

Schicker: Keine Ahnung! Nachdem sich zehn Jahre nur schwer exakt vorhersehen lassen, müsste der Grad der Konkretisierung bei dieser Jahreszuweisung zurückgenommen werden. Ich persönlich würde es geschickter finden, sich wieder auf Fakten zu besinnen und die STEPs ganz sachlich nach ihrem Erscheinungsjahr zu benennen. Alles andere ist verwirrend.

Gab es eine Stadt beziehungsweise einen Stadtentwicklungsplan, der bei den STEPs als Vorbild und Inspiration diente?

Schicker: Natürlich haben wir immer wieder die Stadtentwicklung in München als Grundlage herangezogen. Auch Hamburg, Frankfurt am Main mit seinem Umland sowie Städte in den Niederlanden haben gute, praktikable Elemente, an denen wir uns orientiert haben. Im Gegensatz dazu sind Megastädte wie London oder Paris für uns – was die Stadtentwicklungsplanung betrifft – irrelevant. Diese Megastädte spielen in einer anderen Liga.

Zu den Schwerpunkten im aktuellen STEP 2025 zählen unter anderem Wissenschaft und Forschung. Inwiefern schlagen sich diese Themen auf die Stadtentwicklung nieder?

Schicker: Massiv! Denn damit sind nicht nur Wissenschafts- und Forschungsstandorte gemeint, sondern auch die Auswirkungen von neuen technologischen Entwicklungen auf die Stadtplanung. Als ein großes Beispiel will ich die zunehmende Digitalisierung nennen. Wir werden immer vernetzter und sind in der Lage, immer mehr Dinge an immer mehr Orten zu machen. Daher ist es dringend an der Zeit, die Charta von Athen endgültig fallenzulassen und die Flächenwidmungsplanung, die heute immer noch die Funktionstrennung als Grundlage hat, vollkommen neu zu denken.

Dazu müsste man ordentlich am System rütteln.

Schicker: Einfach nur Mischnutzungen im Flächenwidmungsplan vorzusehen, wird zu wenig sein. Ich meine eine riesige Umstellung, weg von den gewohnten Kategorien Wohnen, Gewerbe, Industrie und so weiter. Daran führt meiner Meinung nach kein Weg vorbei.

Von welchem Zeitraum sprechen wir hier?

Schicker: So eine Umstellung braucht eine sorgfältige Planung mit entsprechenden Übergangsfristen. Realistisch sprechen wir hier von einem Zeitraum von 20 Jahren.

Die Charta von Athen 1933 hat uns nicht nur eine gewisse Funktionstrennung beschert, sondern auch eine stellenweise viel zu niedrige städtische Dichte. In vielen Arealen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts errichtet wurden, mangelt es bis heute an Urbanismus.

Schicker: Viele Stadterweiterungsgebiete der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre leiden tatsächlich an einer gewissen Ausdünnung. Die Abstandsflächen zwischen den Häusern bewirken eine sehr niedrige Bebauungsdichte, die deutlich unter jener im barocken oder gründerzeitlichen Wien liegt. Noch stärker trifft das auf den sogenannten periurbanen Raum zu.

Was tun?

Schicker: Nachverdichten! Vor allem in den verhüttelten Gegenden rund um die neuen U-Bahn-Stationen ist das ein dringender Auftrag an die Zukunft. Allerdings gebe ich zu bedenken: Nachverdichtungsprojekte in Form von Neubauten, Zubauten und Aufstockungen sind sehr komplex und scheitern oft an Eigentümerverhältnissen und Ängsten der Bevölkerung. Pilotprojekte wie etwa „Smarter Together“, das 2019 fertiggestellt wurde, waren ein immenser Kraftaufwand. Auch hier wünsche ich mir eine entsprechende Reform, die solche Projekte in Zukunft leichter umsetzbar macht.

Ein wichtiger Aspekt einer lebendigen Stadt sind die Faktoren Chaos, Zufall und Zeit. Inwiefern lassen sich diese Variablen in die Stadtplanung einbeziehen?

Schicker: Chaos und unerwartete Situationen kann man nicht planen. Man kann sie aber ermöglichen. Bloß ist es so, dass Chaos und Unplanbarkeit leider nicht in die DNA dieser Stadt eingeschrieben sind. Was ich mir gut vorstellen kann, ist Chaos in einem vorgegebenen Rahmen – etwa in Form von Selbstverwaltung und Selbstorganisation, indem man gewisse Areale aus der Stadtplanung ausklammert oder zeitlich postponiert oder indem man die Planung des einen oder anderen Stadtviertels den Bewohnerinnen und künftigen Nutzern überlässt und dafür Beratung zur Verfügung stellt – so wie dies bei der Siedlerbewegung vor hundert Jahren der Fall war. Das ist ein durchaus reizvoller Gedanke.

Haben Sie eine Lieblingsstadt?

Schicker: Abgesehen von Wien? Zu meinen Lieblingsstädten zählen Prag, Sydney und Buenos Aires.

Wovon könnte Wien ein Äutzerl mehr haben?

Schicker: Von Vielem! Aber Wien ist nicht Prag, nicht Sydney und nicht Buenos Aires. Sondern eben Wien.

Rudolf Schicker,

geboren 1952, studierte Vermessungswesen, Raumplanung und Raumordnung an der TU Wien. Bis 1978 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Raumplanung (ÖIR). Von 1978 bis 1987 war er Referent in der Abteilung Raumplanung und Regionalpolitik des Bundeskanzleramtes. Von 1988 bis 2001 Geschäftsführer der Österreichischen Raumordnungskonferenz (ÖROK). Von 2001 bis 2010 war er Stadtrat für Stadtentwicklung und Verkehr. Im November 2010 wechselte er in den Wiener Landtag und Gemeinderat, wo er bis 2015 den Vorsitz des SPÖ-Rathausklubs innehatte. Zuletzt war er Leiter des internationalen Danube Strategy Point mit Sitz in Wien.