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Gemeinderat, 69. Sitzung vom 01.07.2015, Wörtliches Protokoll  -  Seite 39 von 94

 

auch eine Reihe von privaten Initiativen gibt, um diese Informationstätigkeit auch im Sinne einer Entstigmatisierung zu verstärken. Seit fünf Jahren gibt es die Plattform für psychosoziale Gesundheit in Wien, die die Kollegin Ramskogler vorangetrieben hat. Ich selbst habe im Jahr 2011 „ganznormal.at“ gegründet, wo den Ehrenschutz unsere Gesundheitsstadträtin übernommen hat. Wir tun das, weil wir der Meinung sind, es ist in der Tat Zeit, ganz normal darüber zu reden.

 

Die Weltgesundheitsorganisation sagt, jeder dritte Mensch ist ein Mal in seinem Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen. In Österreich sind es 900 000 Menschen, 600 000 davon leiden unter Depressionen. Der Kern des Problems ist, dass da eine Entstigmatisierung der Krankheit notwendig ist. Denn die Frage, die es zu beantworten gilt lautet: Warum nehmen psychisch erkrankte Menschen oftmals die Hilfe, die es in dieser Stadt gibt, nicht in Anspruch? Oder, was sich fast wie ein Witz anhört, aber keiner ist: Warum wechseln Patienten die Straßenseite, wenn ihnen auf der Straße ihr Psychiater oder Therapeut entgegenkommt? Würden die das bei einem HNO-Arzt, beim Kinderarzt oder bei einem anderen Facharzt auch tun? Nein, das wäre nicht der Fall. Da ist die Angst vor Stigmatisierung am Arbeitsplatz, im Familienkreis, im Freundeskreis, Angst vor Jobverlust die wesentliche Ursache.

 

Es geht natürlich wie immer auch um Fragen der Finanzierung, die da sehr wesentlich sind. Ich habe dazu ein Zitat von Sigmund Freud gefunden, der 1919, also vor bald 100 Jahren Folgendes gesagt hat, ich zitiere: „Irgendeinmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfestellung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als dringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen den Termin noch länger hinausschieben, aber irgendeinmal wird es dazu kommen müssen.“

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus dem sozialen Menschenrecht auf den besten erreichbaren Gesundheitszustand leitet sich daher auch das Menschenrecht auf die beste erreichbare seelische Gesundheit für alle ab. Und nachdem Menschen mit psychischen Problemen in unserer Gesellschaft nach wie vor diskriminiert werden, ihre Erkrankungen tabuisiert werden, ist die öffentliche Diskussion auch die Basis für einen offenen Umgang mit dem Thema seelische Erkrankungen.

 

Dabei haben psychische Erkrankungen in den letzten Jahren sogar zugenommen. Jeder fünfte Arbeitnehmer leidet laut OECD-Untersuchung unter psychischen Erkrankungen, es ist die Zivilisationskrankheit des 21. Jahrhunderts. Ich führe das deshalb aus, weil das eben nicht bloß Überschriften sind, über die man sich locker lustig machen kann, sondern man sich hier eine sehr große Aufgabe vorgenommen hat.

 

Immer mehr Menschen gefährden ihre Gesundheit für den Job. Eine aktuelle Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung besagt zum Beispiel, dass jeder Achte krank ins Büro geht und jeder Vierte auf Pausen verzichtet. In Österreich ist die Situation ähnlich. Eine Studie der Arbeiterkammer besagt, dass 37 Prozent ständig unter Druck arbeiten und keine Zeit für Pausen haben.

 

Über Wien – das ist ja auch in der Erläuterung der Gesundheitsziele angeführt – wurde berichtet, dass im Jahr 2007 38,1 Prozent der weiblichen und 51,1 Prozent der männlichen Erwerbstätigen über zumindest einen psychischen Belastungsfaktor am Arbeitsplatz gesprochen haben: Zeitdruck, Überbeanspruchung. Die Folgen sind Depression, Angstzustände, Auswirkungen von Stress sowie ein gehäuftes Auftreten unspezifischer Beschwerden et cetera.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sprechen von wachsendem Leistungsdruck, von Angst, bis es nicht mehr geht; und werden die Vorgaben dann aber dennoch erfüllt, gilt die übersprungene Messlatte schnell wieder als neuer Standard für weitere Herausforderungen. Hier ist, meine ich, auch ein Paradigmenwechsel notwendig. Die Gesundheit ist die Voraussetzung nicht nur für das persönliche Wohlbefinden, sondern, wenn man auch die volkswirtschaftlichen Kosten betrachtet, auch für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme damit zum Schluss. Gesundheit, gesund zu sein, gesund zu werden, betrifft jede, jeden Einzelnen von uns, und man und Frau können dazu auch selbst etwas beitragen. Ein wenig ist man auch seines eigenen Glückes Schmied, aber die Gesundheitsziele gehen ja weit über diesen persönlichen Beitrag hinaus.

 

Die Planungen im Gesundheitssystem haben natürlich auch die aktuellen Entwicklungen – die bleiben hier ja nicht stehen, die Rahmenbedingungen, die demographische Entwicklung, die technische Innovation, die Fortschritte bei Diagnostik- und Behandlungsmethoden wie auch die soziale und wirtschaftliche Situation – zu berücksichtigen. Die gemeinsamen Gesundheitsziele, die heute im Gemeinderat zum Beschluss erhoben werden sollen, sind gleichzeitig auch das Bekenntnis einer Stadt, die Gesundheit, die Lebensqualität der Bevölkerung, der Menschen, die in dieser Stadt leben, zu verbessern und damit weiterhin in die Gesundheit der Bevölkerung zielgenau zu investieren. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei SPÖ und GRÜNEN.)

 

Vorsitzender GR Dipl-Ing Martin Margulies: Mittlerweile liegen mit zu diesem Tagesordnungspunkt drei weitere Wortmeldungen vor. Zuvor erteile ich aber für eine tatsächliche Berichtigung Frau Dr Claudia Laschan das Wort. – Bitte.

 

12.57.36

GRin Dr Claudia Laschan (Sozialdemokratische Fraktion des Wiener Landtages und Gemeinderates)|: Ich möchte nur kurz tatsächlich berichtigen, dass ich nicht gesagt habe, dass es keine Daten gibt und dass die Grundlage der Gesundheitsziele sozusagen ohne Daten erfolgt ist. Ich habe vielmehr gesagt, dass es viele Daten gibt, die nicht verwertet werden können, weil es Datenschutzprobleme gibt und weil es sehr viele Übereifrige gibt, die bis jetzt verhindert haben, dass man diese Gesundheitsdaten sinnvoll verwendet. Ich hoffe, das ist jetzt auch verständlich herübergekommen. (Beifall bei der SPÖ.)

 

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