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Gemeinderat, 54. Sitzung vom 23.06.2014, Wörtliches Protokoll  -  Seite 30 von 105

 

SPÖ zur Zeit hat. Bei einer Steuerreform, Herr Kollege, laufen Sie bei uns offene Türen ein. Allerdings sollten Sie diesen Antrag nicht im Gemeinderat stellen, sondern dem Bundeskanzler weiter verweisen, und der Bundeskanzler hätte schon längst eine Steuerreform durchführen können, aber er hat sie nicht gemacht. Klagen allein ist zu wenig. (Beifall bei der FPÖ und von GR Dr Wolfgang Aigner.) Nicht das bloße Ansprechen von Problemen, sondern das Lösen durch Ihre Parteien sollte im Mittelpunkt stehen, und genau das geschieht nicht. (Neuerlicher Beifall bei der FPÖ und von GR Dr Wolfgang Aigner.)

 

Aber ich möchte das Wort zu etwas ganz anderem ergreifen, noch einmal. Ich glaube, dass der Besuch von Ministerpräsident Erdogan in Wien eine wirklich ganz interessante Sache gewesen ist, ein Skandal, ein Affront. Es ist eine erstmalige Sache, dass ein ausländischer Regierungschef, dazu noch einer aus einem Drittstaat, der bestenfalls EU-Bewerber ist, nach Österreich kommt und Wahlkampf betreibt. Da demonstrieren 25 000 bis 30 000 Personen für und natürlich auch gegen den Politiker eines Landes, der im Wahlkampf steht in einem Land, das nicht EU-Mitglied, sondern eben Drittstaat ist, und das wird in Österreich zur Kenntnis genommen.

 

Ich glaube, der Ministerpräsident Erdogan hat in Wien letzten Endes eine Wahlkampfveranstaltung abgehalten, nämlich im Zusammenhang mit seiner Wahl in der Türkei zum Staatspräsidenten. Das ist etwas Neues. Es ist ein erstmaliges Ereignis, dass ein ausländischer Politiker herkommt und massiven Wahlkampf für eine Wahl in seinem Land betreibt. Hier mobilisiert der Ministerpräsident eines Drittstaates in Österreich ansässige Landsleute und verwendet sie für seine Interessen. Etwas anderes ist nicht geschehen. Hier nutzt der Politiker eines Landes wie der Türkei das Recht auf Meinungsfreiheit, ein Grundrecht in Europa, ein Grundrecht in jedem Rechtsstaat, dabei wird dieses Recht in seinem Land mit Füßen getreten. (Beifall bei der FPÖ und von GR Dr Wolfgang Aigner.) In letzter Zeit passieren unglaubliche Dinge in der Türkei, und der Weg hin zu einem autoritären Staat ist von Erdogan bereits beschritten worden. Ein Ereignis wie dieses hat es in dieser Stadt und in diesem Land noch nicht gegeben.

 

Ich habe die Reaktionen verfolgt, die sich da ergeben haben; und ich bin neugierig, wie zum Beispiel die politischen Parteien reagieren werden, wenn etwa der Ministerpräsident von Ungarn nach Österreich kommt und hier einen Wahlkampf führen will – es wird genügend Ungarn geben, die ihn wählen wollen oder eben nicht – oder wenn zum Beispiel eine nicht unbekannte französische Politikerin vom Front National nach Wien kommt und hier unter ihren Staatsbürgern Wahlkampf betreibt. Wir werden sehen, wie da die entsprechende Handlungsweise seitens der offiziellen Stellen sein wird.

 

Erdogans Besuch wird als Privatbesuch bezeichnet! Ein Privatbesuch, der sich mit 30 000 Gästen beschäftigt, ist ein sehr interessanter Vorgang! Das zeigt einiges über die Zustände in dieser Republik, eine gewisse Hilflosigkeit und Verblüffung der offiziellen Stabsstellen, auch der Landespolitik im Umgang mit dieser Provokation. Das zeugt letztendlich auch vom Versagen der Integrationspolitik, die einen beträchtlichen Teil der türkischen Bevölkerung offensichtlich nicht erfasst hat. Es ist bedauerlicherweise zu konstatieren, dass ein Teil der türkischstämmigen Bevölkerung und leider auch der Zweit- und Drittgeneration in dieser Republik offensichtlich nicht angekommen ist. Das ist ein Zustand, der bedauerlich ist und letzten Endes von der Unfähigkeit von Rot, Grün und ÖVP in Sachen Integration zeugt, die in diesem Fall letzten Endes verantwortlich sind. (Beifall bei der FPÖ und von GR Dr Wolfgang Aigner.)

 

In der Zeitung „Die Presse“ vom Sonntag schreibt Frau Duygu Özkan etwas Interessantes, nämlich: „Warum sich der türkische Patriotismus vom österreichischen unterscheidet:“ Sie kommt zu folgendem Schluss: „Als diese Woche der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Wien besucht hat, war dieser Patriotismus“ – der türkische – „wieder allgegenwärtig. Jugendliche, die in Österreich geboren wurden, haben sich mit Inbrunst zu einem Land bekannt, das sie in seiner Gesamtheit gar nicht fassen können. Das ist nicht nur ein Systemfehler der Integrationspolitik, denn der türkische Nationalismus muss zunächst in der Türkei abgestreift werden.“ – Eine durchaus richtige Feststellung und Bemerkung.

 

Das stellt auch die Frage nach den Loyalitäten in dieser Stadt und im Land. Es ist die Frage zu stellen, welche Loyalitäten die angesprochene Bevölkerungsgruppe hier in Wien und in ganz Österreich hat, ob zumindest eine doppelte Loyalität vorhanden ist – das Mindeste, das man verlangen könnte. Ein Meer von türkischen Fahnen bei dieser Veranstaltung von Erdogan spricht ja dagegen.

 

Es ist ein Missbrauch durch einen zunehmend autoritär agierenden Politiker, dass letzten Endes ein türkischer Wahlkampf nach Wien getragen wird. Da soll nicht Schule machen, das gehört verhindert, nämlich durch eine aktive Politik der Bundesregierung, aber auch der Stadt Wien. (Beifall bei der FPÖ und von GR Dr Wolfgang Aigner.) Übrigens hat diese Veranstaltung, wenn ich feststellen darf, just nach dem Jahrestag der Gezi-Park-Demonstrationen und deren massiver Niederschlagungen stattgefunden, wobei es wieder Folgedemonstration der ganzen Türkei gab und gegen die diversen Demonstranten mit brutaler Gewalt vorgegangen wurde.

 

Wenn man sich so anschaut, wie sich diese Entwicklung herauskristallisiert hat, muss man sagen: Der autoritäre Weg des Ministerpräsidenten Erdogan ist, glaube ich, ziemlich eindeutig nachzuverfolgen. Die Verfassung wird von ihm für seine politischen Zwecke instrumentalisiert, die Gleichschaltung und Abschaffung der Unabhängigkeit der Justiz ist erfolgt, die Verfolgung politischer Gegner mittels obskurer Verschwörungstheorien ist eine gängige Methode. Erinnern Sie sich an Ergenekon, diese Affäre rund um Militärpersonen mit Massenverhaftungen als Folge. Laut dem türkischen Menschenrechtsverband sind 42 Prozent der 128 000 Insassen türkischer Haftanstalten nicht Verurteilte, sondern Inhaftierte „Verdächtige“. Ich selbst war einmal in Diyarbakir bei einem Massenprozess gegen kurdische Lokalpolitiker, Stadträte

 

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