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Landtag, 8. Sitzung vom 25.04.2002, Wörtliches Protokoll  -  Seite 4 von 48

 

Fragestunde.

 

Die 1. Anfrage (FSP/01947/2002/0001-KFP/LM) wurde von Herrn Abg Dr Helmut GÜNTHER gestellt und ist an den Landeshauptmann gerichtet: Sind Sie der Auffassung, dass Tschechien der Europäischen Union beitreten kann, obwohl Teile der Benes-Dekrete, die eindeutig den seit 1993 in Geltung befindlichen Beschlüssen von Kopenhagen bezüglich der Wahrung der Menschenrechte sowie der Achtung und dem Schutz von Minderheiten widersprechen, sich weiterhin im Rechtsbestand der tschechischen Republik befinden?

 

Ich bitte um die Beantwortung.

 

Lhptm Dr Michael Häupl: Sehr geehrter Herr Landtagsabgeordneter!

 

Der Europäische Rat hat in seiner Tagung im Juni 1993 in Kopenhagen festgehalten, dass ein Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder nur unter folgenden Voraussetzungen erfolgen kann:

 

Sie müssen über eine stabile demokratische und rechtsstaatliche Ordnung verfügen.

 

Sie müssen eine funktionsfähige Markwirtschaft haben, die es ihnen ermöglicht, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten.

 

Sie müssen die Menschenrechte wahren und den Schutz der Minderheit gewährleisten.

 

Jene Teile der Benes-Dekrete, insbesondere soweit sie die Konfiskation von Vermögenswerten und die Entziehung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft betreffen, sind heute Symbol für massive Verletzung von Menschenrechten. Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die Enteignung und die daraus folgenden Massenvertreibungen zählen zweifellos zu den Gräueltaten und den dunkelsten Abschnitten der europäischen Nachkriegsgeschichte. Es stünde der Tschechischen Republik eine politisch-moralische Aufarbeitung der eigenen Geschichte nicht schlechter an als anderen Staaten, einschließlich Österreichs, die sich auch zu den dunklen Zeiten ihrer jüngeren Vergangenheit bekennen.

 

Die Frage ist allerdings, ob es auch heute eine rechtliche Relevanz der Benes-Dekrete gibt, die grundsätzlich in Widerspruch zu den einschlägigen Bestimmungen der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft stünden.

 

Um Klarheit zu gewinnen, werden von der Europäischen Union jene Benes-Dekrete, die die Vertreibung von Deutschen und Ungarn aus der Tschechoslowakei zur Folge hatten, dahingehend überprüft, ob sie dem Europäischen Recht widersprechen. Dem Vernehmen nach ist ein Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission bereits fertig gestellt und soll demnächst veröffentlicht werden. Das Europäische Parlament hat im Übrigen, wie wir beide wissen, ebenfalls eine Studie beauftragt, um die Frage der Vereinbarkeit der Benes-Dekrete mit der Rechtsordnung der Europäischen Union zu prüfen. Eine Fertigstellung und Veröffentlichung dieser Studie ist vor dem Sommer zu erwarten.

 

Lassen Sie mich aber auch feststellen, dass die Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Länder gerade für Wien und die Ostregion Österreichs besondere wirtschaftliche und politische Chancen eröffnet. Ich habe darauf an dieser Stelle schon mehrmals hingewiesen. Dieser zukunftsorientierte Prozess soll nicht dadurch behindert werden, dass alte historische Streitigkeiten, Vorurteile und Ressentiments hervorgeholt werden, sondern Geschichte aufgearbeitet wird. Gerade der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so erfolgreiche Prozess der Europäischen Integration hat nach den leidvollen Erfahrungen in der ersten Hälfte wesentlich zu Frieden und Sicherheit sowie zu Wohlstand und Prosperität der Menschen in Europa beigetragen.

 

Dieses gemeinsam Erreichte durch schon überwunden geglaubte historische Ressentiments oder falschen Nationalismus in Frage zu stellen, ja zu gefährden, halte ich persönlich für den falschen Weg.

 

Präsident Johann Hatzl: Die erste Zusatzfrage hat Herr Abg Dr GÜNTHER.

 

Abg Dr Helmut GÜNTHER (Klub der Wiener Freiheitlichen): Herr Landeshauptmann!

 

Die tschechischen Parlamentarier haben gestern einstimmig beschlossen, dass die Rechts- und Eigentumsverhältnisse, die nach dem Krieg auf der Grundlage der Dekrete entstanden sind, unanzweifelbar, unantastbar und unveränderbar sind. Dies widerspricht auch dem, was Sie hier gesagt haben, denn die Tschechen sind anscheinend nicht bereit, sich mit dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte, im Gegensatz zu Österreich, zu befassen. Möglich geworden ist dieser Beschluss der tschechischen Parlamentarier aber, glaube ich auch, weil es eine Zustimmung des Staatspräsidenten Havel gegeben hat, der durchaus einmal auch eine andere Linie vertreten und gesagt hat, es habe sich dabei um Rache und um Unrecht gehandelt, und dieser Linie wäre an sich nichts zuzufügen.

 

Darum ist es für mich unverständlich, dass er jetzt diese Linie verlassen hat. Gleichzeitig hat im Anschluss daran Landtagspräsident Klaus gesagt, sollte Europa diese Entscheidung nicht akzeptieren, würde er seinen Leuten empfehlen, nicht für Europa zu stimmen.

 

Jetzt wissen Sie wie ich, dass die Erweiterung der Europäischen Union ein europäisches Projekt für die nächsten Jahrhunderte ist und ganz Europa daran Interesse hat.

 

Darum meine Frage: Verstehen Sie, wie ein Beitrittskandidat bereits vor dem Beitritt versuchen kann, Europa und die Europäische Union mit derartigen Wortmeldungen zu erpressen?

 

Präsident Johann Hatzl: Herr Landeshauptmann, bitte.

 

Lhptm Dr Michael Häupl: Zunächst einmal verstehe ich das nicht als eine Erpressung, sondern als eine Meinungsäußerung eines bedeutenden Politikers unseres Nachbarlandes. Denn selbstverständlich stehe ich auf dem Standpunkt, dass dieser Erweiterungsprozess der Europäischen Union ein ungeheuer wichtiger Schritt für die politische Entwicklung, für die wirtschaftliche Entwicklung, für die gesellschaftliche Entwicklung, für die

 

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