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Mein Name ist Roland Girtler. Ich bin Professor am Institut für Soziologie, fühle mich auch als Kulturanthropologe.
Zu meinem Leben: Ich bin geboren in Wien, 1941, in Ottakring interessanterweise, meine Eltern sind auch Wiener, die dann Landärzte in Spital am Pyhrn wurden. Das hängt wahrscheinlich mit dem Krieg zusammen.
Mein Vater war an der russischen Front, wurde schwer verwundet, ist dann ins Lazarett gekommen, in die Lüneburger Heide. Meine Mutter ist mit uns Buben dorthin gefahren. Das war 1944, und meine Mutter hat dort Typhus bekommen.
Ich habe die letzten Kriegswirren dort oben erlebt, das letzte Kriegsjahr. Meine Mutter war im Krankenhaus. Ich habe mit meinem Bruder alleine gelebt. Ich war vier, mein Bruder drei. Wir haben alleine gelebt bei einem Sattler in der Nähe von Wietzendorf bei Soltau nahe Hannover. Wir sind dort jeden Tag zu einem Bauern essen gegangen. Wenn ich mich erinnere, ist es furchtbar. Dort habe ich es nicht so furchtbar empfunden.
Ich erinnere mich an einen deutschen Soldaten, der mit dem Feldstecher in die Höhe schaut, mich ins Haus hineindrängt: Oben war der Himmel voll von Flugzeugen. Hamburg, Bremen und Hannover sind angegriffen worden.
Nach dem Krieg war mein Vater noch kurz interniert bei den Engländern, aber er war Arzt, man war sehr freundlich zu ihm. Er war auch sehr gut. Er war bei keiner Partei. 1946 sind wir zurück nach Österreich, nach Wien.
Ich erinnere mich, dass die Leute mich als Piefke beschimpft haben, weil ich diesen Dialekt noch gesprochen habe von der Lüneburger Heide. Dort war auch meine erste Liebe, Anneliese hat sie geheißen und war so alt wie ich. Wir waren dann in Wien, da ist die Stelle in Spital am Pyhrn frei geworden.
Mein Großvater war Professor an der Deutschen Technischen Hochschule in Brünn. (Professor Viktor) Kaplan war sein Freund, der die Turbinen entwickelt hat. Er ist nach Windischgarsten gefahren in den Nachkriegstagen, und wir sind auch dorthin. Ich bin in Windischgarsten aufgewachsen und in Spital am Pyhrn in die Volksschule gegangen.

ZERBOMBTES DEUTSCHLAND
Wir sind mit einem Lastauto aus Deutschland nach Österreich gefahren. An das erinnere ich mich. Ich bin hinten gesessen mit einem Teddybären in der Hand. Wir sind durch das zerbombte Deutschland gefahren. Ich habe gesehen, wie die Leute angestellt waren um Essen. Wir haben in Gefängnissen übernachtet. Es war eine wilde Geschichte.
Spital am Pyhrn ist ein Ort mit etwa 2ooo – 3000 Einwohnern. Ich bin zwischen den Felsen im Gebirge aufgewachsen. In den letzten Kriegstagen kamen viele Leute noch in den Ort, aus dem Banat usw. Ich glaube, es waren ungefähr 8000 Leute für kurze Zeit im Ort.

GOLDSCHATZ – UNGARN
Dann kam eines Tages ein Track: Pferdewagen mit Anhänger. Einige kamen mit dem Zug, aus Ungarn. Sie führten riesige Kisten mit sich. Die haben sie in das Stift, in die Gruft gebracht. Die Einheimischen waren natürlich neugierig. Dann hat es sich herausgestellt: es war der Goldschatz der ungarischen Nationalbank mit den Throninsignien, die dann weiter geführt wurden in das Innviertel. Wie dann die Amerikaner gekommen sind, haben sie all das eingesteckt und nach Amerika gebracht. Die Ungarn haben das alles irgendwie zurückbekommen.
Die Kinder der Wächter dieses Schatzes waren meine ersten Freunde. So bin ich aufgewachsen. Hier waren Menschen aus vielen Kulturen, ein Völkergemisch. Da war ein Lager, ein früheres Arbeitsdienstlager. Dort sind nun die Flüchtlinge hingekommen.

US-AMERIKANER – KAUGUMMI
Besonders fasziniert haben mich als Buben die Amerikaner. Die haben eine fesche Uniform gehabt, sind mit Panzern gekommen, ein toller Anblick. Diese Amerikaner waren bei uns ganz beliebt, weil sie Kaugummi und Schokolade gebracht haben. Wir Buben haben versucht, den Kaugummi nachzumachen. Harz von den Bäumen und Zucker, aber das war schlecht für die Zähne.
Meine Eltern hatten ein Dienstmädchen, das seine Nächte mit den Amerikanern verbracht hat. Da hat mein Vater furchtbar geschimpft. An das erinnere ich mich noch gut.
Die Amerikaner haben Leben in das Dorf gebracht. Sie waren lässig, nicht stur wie andere Soldaten. Aber wenn sie zu viel getrunken hatten, sich zu wild aufgeführt haben mit den Mädchen, mussten sie straf-exerzieren, an das erinnere ich mich. Besonders einer, ein fescher Mann, der musste immer stramm gehen, mit dem Gewehr salutieren und wieder zurück.
Was mir besonders gefallen hat, war das tägliche Hissen der Fahne. In der Früh wurde sie hochgezogen, am Abend wieder herunter geholt, und zu einem Dreieck zusammengelegt. Das habe ich bewundert.
Die Amerikaner waren zu uns Buben freundlich. Einmal haben sie einen Boxring aufgestellt, um uns zu erfreuen. Sie haben uns Boxhandschuhe gegeben und so haben wir boxen gelernt. Da haben wir ordentlich zugehaut.
Da habe ich dann so sprachwissenschaftliche Interessen gehabt. Mich hat gewundert, dass sie nicht Milch sagen sondern milk. Interessant!

TANTE IN WIEN
Meine Mutter ist mit uns Buben regelmäßig nach Wien gefahren zu unserer Tante, der Tante "Tontschi". Die war unsere Taufpatin. Zu der sind wir gerne gefahren. Sie hat im 21. Bezirk gewohnt. Sie musste als Trümmerfrau arbeiten. Sie hat meiner Mutter erzählt, dass sie Schwierigkeiten mit einem Russen gehabt hat. Wie die Russen gekommen sind, haben die Damen sich gefürchtet. Meine Tante hat sich in einem Kohlenkeller versteckt. Die Russen waren aber sonst auch ganz nett, aber die Damen haben halt Angst gehabt. Diese Tante haben wir geliebt, es war immer ein schöner Ausflug zu ihr. Da haben wir auch gesehen, wie Wien in Trümmern lag.

WILDES LEBEN IM DORF
Meine Eltern hatten wenig Zeit, sich um uns zu kümmern, was typisch für Landärzte ist. Die Hausgehilfin hat sich nicht viel um uns gekümmert. Ich habe da die wildesten Geschichten aufgeführt. Ich habe mit sieben, acht Jahren die Feuerwehrsirene aufgedreht. Da ist die Feuerwehr in voller Ausrüstung auf dem Hauptplatz gestanden und wusste nicht, wo es brennt. Da haben wir ordentliche Watschen bekommen von meinem Vater.
Diese Watsche haben wir aber damals nicht so arg empfunden, denn damit war es erledigt. Heute wird der Psychologische Dienst geholt. Wir haben andere Erziehungsmethoden genossen. Uns hat eine Watsche eigentlich gar nichts gemacht. Das hat zur Erziehung dazu gehört. Ich bin aber ein Gegner von Watschen, ich habe meine Kinder nicht gehaut.
Mit zehn Jahren bin ich in die Klosterschule gesteckt worden, das war hart. Ich durfte nur vier Mal im Jahr nachhause. Das erste Mal zu Allerheiligen. Hie und da sind meine Eltern zu Besuch gekommen. Es war alles streng geregelt. Wir mussten jeden Tag um sechs Uhr aufstehen. Ein mönchisches Leben. Die Erziehung in dieser Klosterschule geht zurück auf das sechzehnte Jahrhundert. Ich habe darüber geschrieben. Ein genauer Ablauf: Frühstück, Studium, Schule usw.

MATURA – KÜCHENMÄDCHEN
Zuerst musste ich den Nachzipf in Physik machen, dann musste ich ganz alleine maturieren. Heute ist es so, wenn man in einem Gegenstand durchfliegt, kann man trotzdem maturieren, damals nicht.
Ich habe jeden Tag in der Krankenabteilung des Internats genächtigt. Dann bin ich ins Gymnasium gegangen um zu schreiben. Da konnte man nicht schwindeln – eine traurige Sache.
Da habe ich das Küchenmädchen Irmgard kennen gelernt. Die hat nachgeschaut im Lateinbuch, welche Stelle ich habe. Leider hat sie sich geirrt. Ich bin mit ihr spazieren gegangen im Freien. Da habe ich zum ersten Mal eine größere Frauenbrust in der Hand gehabt. Ich habe darüber in meinem Buch geschrieben, dass mich das bestens entschädigt hätte für die Niedertracht des Physikprofessors. Ich habe mir gedacht, dass sich das eigentlich ausgezahlt hat, dieser Nachzipf, denn jetzt kenne ich mich aus.

WIEN – FREIES LEBEN
Dann bin ich nach Wien gekommen und habe die erste Zeit überhaupt nichts studiert, weil ich es genießen wollte. Das freie Leben 1959, die Stadt, die Kultur, die Tanzlokale. Im Zwölf-Apostel-Keller habe ich sogar Lokalverbot gehabt. Da haben sie die Polizei geholt, wie ich das zweite Mal hinein gegangen bin. Der Teddy Podgorski war auch aus Spital am Pyhrn. Sein Vater war Mechaniker und hat meiner Mutter das Autofahren beigebracht. Auf dem Friedhof gibt es ein Grab mit der Aufschrift "Hier liegt Thaddäus Podgorski." Das war der Vater.
Der Teddy war älter als ich, für mich der typische Städter, der vornehme Herr. Die Kultur, die er vertreten hat, habe ich in Wien kennen gelernt. Sie hat mit diesen Tanzlokalen zu tun, mit den Bars, den Gschnas‘. Da habe ich ein schönes Leben geführt.
Ich bin dann auch zu einer Studentenverbindung gegangen, bei der schon mein Vater und mein Großvater waren, ein liberales Corps. Das war wichtig für mich. Ich hatte ein lustiges Leben, studiert habe ich kaum was.

"CORPS SYMPOSION" – VERBINDUNG
Diese Verbindung wurde von achtzehn Juden gegründet und drei Nichtjuden, die wurden als Ausnahme bezeichnet. Sie waren deutsch-national in der alten Tradition, aber nicht antisemitisch. Mein Großvater hat sich auch distanziert vom Antisemitismus. Es war eine liberale Studentenverbindung, die auch heute nicht im WKR (Wiener Korporationsring) ist. Sie distanziert sich auch heute von den politisch ausgerichteten Verbindungen.
Die Leute, die ich dort getroffen habe waren auch gute Freunde. Aber es waren auch Mannbarkeitsrituale, Mensuren, Fechten, blutig. Das hat mir gefallen – tut mir leid! Wir haben aber auch immer gute Vorbilder gehabt, angefangen vom Karl Marx, der ja auch in einer Verbindung war, auch Lasalle. Da gibt es tolle Leute.

THEODOR HERZL – BEGRÜNDER DES ZIONISMUS
Auch der Herzl hat gefochten, Ich habe ein Bild hier vom Herzl bei einer Mensur. Er war bei der Burschenschaft Albia. Es ist für mich auch eine interessante Welt, diese Welt des blutigen Fechtens. Es ist eine wilde Geschichte, aber ich will das nicht missen.

MITGLIEDSCHAFT – VEREINE
Ich sage, jeder anständige Mensch ist in seinem Innersten großzügig, liberal, sozial eingestellt. Ich bin beim Alpenverein und den Naturfreunden Mitglied. Die haben mir insofern gefallen, weil sie eine alte Arbeiterkultur haben, aber auch bergsteigerisch großes geleistet haben. Beim Alpenverein gibt es eine studentische Kultur. Der wurde 1863 von drei Studenten, zwei davon adelig, gegründet.
Ich habe auch Kletterkurse gemacht, ich war ein guter Kletterer. Das habe ich an der Wiener Universität gelernt. 1982 habe ich teilgenommen an einem Kurs für Eisklettern auf Wasserfällen. Ich bin sogar in einem Buch drinnen als der Erstdurchkletterer eines Wasserfalls im Gasteiner Tal, der den heldischen Namen "Der linke Doppellutscher" hat. Also das Klettern hat mich fasziniert. Da waren die Naturfreunde wichtig.

STUDENT UND WILDSCHÜTZ
Wie gesagt, ich habe ein lustiges Leben geführt. Ich bin in juristische Vorlesungen gegangen, das hat mich aber alles nicht sehr interessiert. Die erste Staatsprüfung war recht spannend, hat mich historisch interessiert. Ich habe zwei Staatsprüfungen gemacht, gerade geschafft mit Genügend. Eine hat mir noch gefehlt, dann wäre ich Mag. jur. Da hätte ich alles Mögliche werden können. Ich habe vorher geheiratet.
Meine Frau ist ein liebenswürdiger Mensch, eine vornehme Dame. Ich habe sie auf einer Schihütte im Stil alter Wildschützen geschwängert. Mein Schwiegervater hat mir dann gesagt, dass er annehme, dass ich seine Tochter heiraten wolle. Was will man da sagen, "nein" geht nicht.
Wir haben also geheiratet. Ich bin noch immer verheiratet, eine nette Dame. Ich sollte noch die dritte Staatsprüfung machen, ins Finanzamt gehen oder so. Ich dachte, um Gottes willen, das ist nichts für mich.

VERKEHRSUNFALL
Meine Frau sollte eine Freude haben. Da hatte ich das Glück meines Lebens. Ich bin mit einem Motorroller, den mein Vater mir geschenkt hatte, beim Gürtel-Wattgasse mit einem Mercedes zusammen gestoßen. Der Fahrer war betrunken und hat mich nieder geführt.
Ich bin über einunddreißig Meter mitgeschleift worden. Beide Beine waren gebrochen, Beckenbruch etc., aber keine Schädelverletzungen interessanterweise, obwohl ich keinen Helm hatte – das war damals noch nicht Pflicht.

INTENSIVSTATION – BETTENSAAL
Dann bin ich aufgewacht in der Intensivstation. Man hat mich dann in einen Saal mit vierundzwanzig Leuten gelegt. Da bin ich vier Monate gelegen. Obwohl meine beiden Eltern Ärzte waren, aber denen war das, glaube ich, egal. Ich war der einzige Intellektuelle in diesem Saal. Dort war die Unterschicht, auch Sandler, Kleinbauern (einer ist neben mir gelegen und hat mir vor seinem Tod sein Testament diktiert). Immer, wenn der Professor Fuchs durchgegangen ist, alle heiligen Zeiten, war es meine Aufgabe, im Namen des Saales zu grüßen. "Wir wünschen Frohe Weihnachten!" und so. Damals durfte man noch im Saal rauchen.

HERZSTICH – WIENER UNTERWELT
Dann kam neben mir eines Tages ein Herr zu liegen, der hatte einen Herzstich. Er hat zehn Vorstrafen gehabt und ist jeden Tag besucht worden von zwei Typen von Menschen: Zuhältern und Dirnen und Kriminalbeamten. Wenn die gekommen sind, hat er sich immer schlafend gestellt. Die Schwester hat ihnen gesagt, dass sie ihn nicht aufregen dürfen wegen des Herzstichs.
Der wurde mein Freund und ist es heute noch. Er schätzt mich, ich schätze ihn. Er war eigentlich ein Wiener Gauner. Er hat den ganzen Gürtel aufgebaut, hat einhundertzwanzig Bordelle aufgemacht. Er war ein Star der Wiener Unterwelt. Er hat jeden Reporter verjagt, sagt nichts auf Tonband, ich habe über ihn geschrieben. Heute ist er Biobauer bei Linz. Dort lebt er wie ein Fürst mit einer älteren Dirne, die sich um die Hühner kümmert. Er hat sich sogar ein Wappen zugelegt. Das schaut toll aus. Dieses Bauernhaus ist derartig perfekt hergerichtet. Es ist wie ein Schloss. Der Garten ist ein Kunstwerk. Mit einem Teich, in dem japanische Fische schwimmen und Hochlandrinder hat er auch.
Für ihn war Kriminalität die Möglichkeit, das zu erreichen, was andere durch Erbschaft erreichen. Er hat sich halt gedacht, Prostitution ist der einzige halblegale Weg. Vorher war er unter Bettlern. Sie mussten für ihn betteln. Ein Bettlerkönig. Er hat mir das alles erzählt.

EINSCHNEIDENDES ERLEBNIS
Eines der einschneidendsten Erlebnisse meines Lebens war, wie er Mitleid mit mir hatte. Die Krankenschwester Hermi war so böse und frech zu mir. Eines Tages liegt er so dort, er hat das ja toll überlebt, diesen Herzstich, er war im Sterben wie ich. Eines Tages ruft er sie und sagt zu ihr, wenn sie weiter so frech und unfreundlich wäre zu seinem Freund, dem Studenten, nehme ich einen "Fünfzehnjährigen" in Kauf. Sie wollte wissen, was das wäre. Er meinte, fünfzehn Jahre Häfen (Gefängnis). Dann sagte er, er würde ihr die gläserne Urinflasche über den Schädel hauen.
Daraufhin war Schwester Hermi freundlich zu mir. Das werde ich nie vergessen. Seitdem ist er mein Freund. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er der Einzige, der mich abgeholt hat. Er hatte einen amerikanischen Wagen der sechziger Jahre. Dann hat er mich eingeladen in Kinos, immer fußfrei wegen meines Gipses und der Krücken. Er war immer nobel.
Er hat mich dann auch in Bordelle ausgeführt. Ich sollte mir eine Dame aussuchen. Ich habe aber immer "nein" gesagt, dadurch habe ich hohes Ansehen bei diesen Leuten.
Ich war immer auf Distanz, habe mich nie eingelassen. Ich hätte jede Ehre verloren, wäre erpressbar gewesen. Später habe ich eine Studie drüber gemacht. Jedenfalls habe ich im Krankenhaus beschlossen, mit dem für mich "blöden Jus" aufzuhören. Meine Frau war einverstanden.

STUDIEN – VIELFALT
Jedenfalls habe ich dann Völkerkunde inskribiert. Soziologie hatte ich schon bei Jus, aber das gab es damals noch nicht, das kam erst Anfang der Siebziger Jahre auf.
Ich war sehr fleißig: Archäologie, Urgeschichte, Philosophie. Meine juristischen Zeugnisse habe ich verbrannt Ecke Zweierlinie und Josefstädterstraße beim "Blauensteiner". Ich habe mir ein Krügel Bier gekauft und alles verbrannt.
Ich habe mir gedacht, jetzt muss ich sehr fleißig sein. Meine Frau war immer unglücklich – wir hatten schon zwei Kinder. Alle haben geschimpft mit mir. Ich war wirklich fleißig, war bei Ausgrabungen, habe Urgeschichte studiert. Soziologie bezieht sich ja auch auf Völkerkunde, auf andere Kulturen.
1969 habe ich in Kroatien Studie gemacht über Großfamilien. Meine Methode war das Gespräch mit den Leuten und die "teilnehmende Beobachtung". Das ist überhaupt das wichtigste. Dann habe ich fertig studiert 1971. Insgesamt habe ich fünfundzwanzig Semester studiert.


METHODEN DER FELDFORSCHUNG
Dann hat mich ein Professor mitgenommen nach München, wo ich zwei Jahre Assistent war. Das war so ein Nachklang der 68er-Jahre. Es ist eine sehr komplizierte, soziologische Sprache gesprochen worden, die ich selber kaum verstanden habe. Ich habe dort auch so gesprochen und geschrieben wie diese Leute. Unverständliches Zeug. Aber ich habe gesehen, man genießt Ansehen als Wissenschaftler, wenn man kompliziert ist.
Dann bin ich wieder zurückgekommen nach Wien, habe Gott sei Dank wieder eine feste Stelle bekommen als Assistent. Da habe ich mir gedacht, auf der Uni ist es eigentlich fad. Ich wollte ordentliche Forschungen machen. Meine ersten Forschungen waren mit Sandlern und mit der Polizei. Ich wollte den direkten Kontakt und habe die Erlaubnis vom Innenministerium bekommen, am Polizeidienst teilzunehmen. Fast parallel habe ich bei den Sandlern geforscht und meine Methoden entwickelt.

ENTWICKLUNG DER METHODEN
Darüber habe ich dann ein Buch geschrieben: "Methoden der Feldforschung". Es ist wichtig, gute Protokolle zu führen, sich bei den Gesprächen selber einbringen, aber nicht aufdrängen. Wenn ich von mir nichts erzähle, erzählen die Leute auch nichts von sich. Bei der Gesprächsführung habe ich viel gelernt. Wie man Menschen respektieren muss, wie man umgeht mit ihnen. Das Wichtigste ist, Respekt vor anderen Menschen zu haben. Außer sie übertreiben, sie sind brutal.
Da ist es mir einmal passiert, dass mir einer seinen Revolver gezeigt hat und angeben wollte. Da habe ich ihm zu verstehen gegeben, dass mir das nicht gefiele. In diesen Szenen hatte ich schon Distanz gegen Gewalt. Das hat den Leuten aber auch gefallen. Sie haben gesehen, das ist keiner von uns, er ist ehrlich, ein "klasser Bursch". Das habe ich gelernt bei diesen Studien.

SANDLER – ALTE KULTUR
Am Anfang war es unheimlich wichtig zu sehen, dass die nicht nur in den Tag hinein saufen, sondern dass da eine Kultur dahinter steckt –eine alte Kultur, die bis in das Mittelalter zurück reicht, bin ich drauf gekommen. Das habe ich an den Wörtern gesehen, die sie gebraucht haben. Ich bin mit Sandlern beim Westbahnhof gestanden, dort habe ich sie ja auch kennen gelernt. Wichtig bei solchen Studien ist, dass man "Führer" hat, Freunde, die einem helfen in dieser fremden Welt. Die habe ich gefunden. Das waren wichtige Helfer.
Das war so, wie ich einen Sandler gefragt habe, was er heute macht, hat er gesagt: "Ich druck jemanden die Rippen ein." Auf meine Frage, was das heiße, sagte er: "Betteln". Ich konnte mir das nicht erklären. Da habe ich nachgeforscht in alten Gaunerwörterbüchern. Die wurden schon im 16. Jahrhundert von Kriminalbeamten verfasst. Im "Liber Vagatorum", dem Buch der Vaganten, von 1510, habe ich dann den Zusammenhang gefunden. Rippa, die Geldtasche – also eine alte Kultur, die dahinter ist.
Dann habe ich noch andere Begriffe gefunden, die damals, als das geschrieben wurde, noch nicht typisch waren, noch nicht vom "guten Bürger" übernommen waren. Im Lauf der Zeit werden Gaunerwörter vom guten Bürger übernommen. Zum Beispiel "Haberer". Auf hebräisch heißt chaber der Freund. Oder Beisl. bájit ist das Haus auf hebräisch, auf arabisch "beit". Das Jiddisch ist die dem Deutschen nächstverwandte Sprache. Eine schöne Sprache: Im fahrenden Volk, bei Händlern, hat sich diese Sprache erhalten.

GAUNERSPRACHE – ROTWELSCH
Auch das Wort Kauderwelsch. Welsch heißt anders reden, das kommt von walhiska (althochdeutsch), und kauder ist die Hanfbehandlung. Das ist die Sprache der Hanfhändler. Die haben sich getroffen auf den Märkten, und da entwickeln sich Wörter. Auch der Paracelsus, der 1549 angeblich bei einer Wirtshausschlägerei gestorben ist, hat auch diese Wörter der Gaunersprache verwendet. Er war ein Marktschreier.
Das hat mich interessiert. Darum habe ich auch ein ganzes Buch über das Rotwelsch geschrieben. Rot heißt falsch, falsch reden. Ich habe ein ganzes Buch geschrieben, weil mich das interessiert hat. Paracelsus verwendet zum Beispiel das Wort Brief für Karte, Spielkarte. Beim Wiener Stossspiel, dem Glücksspiel der Wiener Unterwelt, heißt einen "verkehrten Brief" ins Spiel bringen, eine gezinkte Karte hineinbringen. Da arbeite ich daran, die Gaunersprache und Paracelsus. Die Geschichte hat mir gefallen. Da habe ich wieder weiter getan.

SANDLER – BIOGRAPHIEN
Für mich war es spannend zu sehen, welche Biographien die Sandler haben. Da ist mir aufgefallen, dass viele im Gefängnis gesessen sind und dass sie auch vom Land nach Wien kommen. Denn in den Dörfern haben Leute, die einmal im Gefängnis waren, keine Chance mehr. Die werden kaum mehr geachtet, respektiert. In der Anonymität der Stadt trifft man Leute, denen es ähnlich schlecht geht, die auch im "Häfen" waren.
Es werden Erfahrungen ausgetauscht: Wo man zum Beispiel etwas zum Essen bekommt. "Schnalzn" ist das Wort für Klostersuppe. Heute ist das besonders interessant, wo die "Gruft" zum Beispiel ist. Da habe ich gesehen, da ist eine alte Kultur verbunden, die sich in der Biographie dieser Leute zeigt, die einmal im Gefängnis waren. Und das sind viele. Manche haben ein Problem mit den Alimenten.

ALIMENTE – PFÄNDUNG
Die haben Kinder, sind kleine Arbeiter und denken sich: "Bevor ich da gepfändet werde und das bissel Geld, das ich da verdiene, draufgeht, arbeite ich lieber gar nichts und lebe von der Sozialhilfe." Solche Typen finden sich auch darunter. Auch Alkohol spielt da eine große Rolle.
Ich habe aber auch Leute, die Matura haben, kennen gelernt, die total weg sind aus der normalen Gesellschaft, die vielleicht einmal eingesperrt waren, Raufereien hatten. Jetzt verkommen sie auf der Straße. Dort treffen sie Leute, denen es ähnlich geht.
Da gibt es auch eine Hierarchie: Sandler, die eine gute Selbstdisziplin haben, sind hoch oben. Leute, die sich nicht im Griff haben, die dahin saufen, die furchtbar daherkommen, das habe ich gesehen, die sind ganz unten. Sie machen den anderen Schwierigkeiten. Gewisse Regeln muss man auch da einhalten.

SANDLER MIT KRAWATTE
Wie ich da mit der Polizei mit gefahren bin, sind wir in ein Abbruchhaus, wo die Polizisten zwei Sandler zum Funkstreifenwagen mitgenommen haben, um ihre Angaben zu überprüfen. Sie hatten Ausweise bei sich. Wie wir dort ankommen, nimmt der ältere der Sandler eine uralte Krawatte aus seinem dreckigen Mantel heraus, und bindet sie sich um. Der Polizist fragt ihn nach dem Grund. Darauf sagt der Sandler: "Immer, wenn ich auf ein Amt gehe, nehme ich eine Krawatte."
Es hat mir gefallen, wie der Polizist geradezu gerührt war – solche Achtung bei einem Sandler zu genießen, die er sonst nicht genießt bei Studenten usw. Aber die Sandler sind freundlich. Da hat mir ein Polizist einmal gesagt, dass er lieber im zweiten Bezirk oder im fünfzehnten Dienst macht mit Sandlern und Huren, die sind freundlich. Die verstehen sich oft ganz gut, weil sie sich gegenseitig brauchen. Sie kriegen auch Informationen.
In Sievering und Grinzing hat man es mit betrunkenen Hofräten und Ministerialräten zu tun zu tun, die laufend Schwierigkeiten machen. Die Kollegen in Grinzing wären arm, sie hätten keine Chance. Da dürfte er schon Recht haben.

POLIZEI UND UNTERWELT
Ich bin ja sogar bei diesen Forschungen oft von der Polizei heimgebracht worden. Das war meiner Frau immer unangenehm – in der Nacht mit der Funkstreife – da haben die Leute geschaut. Ich habe heute noch Freunde bei der Polizei und werde regelmäßig eingeladen. Und dieser (Ernst) Hinterberger, der Schriftsteller, wurde auch immer eingeladen. Ich war mit ihm befreundet.
Es gibt einen "Verein der Freunde der Kriminalbeamten", da bin ich auch dabei. Mit denen verstehe ich mich blendend. Das sind auch ganz nette Leute. Da habe ich viel profitiert bei diesen Studien. Hie und da werde ich auch eingeladen von der Polizei, um Vorträge zu halten über die Gaunersprache.

ALOIS SCHMUTZER – PEPI TASCHNER
Über den Ederl, der neben mir gelegen ist, habe ich Kontakte gehabt, aber auch durch einen Pepi Taschner. Der hat vierundzwanzig Vorstrafen gehabt, ist ein fescher Bursch, der aus dem Heim kommt. Da spielt die Heimerziehung eine große Rolle. Er war eigentlich auch ein armer Kerl, der durch das Heim ruiniert wurde. Er wurde so degradiert. Er hat also versucht, durch Gewalt zu zeigen, dass er gut ist. Er hat nie wirklich Gewalt gesetzt, aber er hat einen Revolver gehabt, weil er "Aufpasser" beim Stoß-Spiel war. Er war der "Buckel", der Leibwächter oder Freund des Alois Schmutzer, ein berühmter Mann in den siebziger- und achtziger Jahren. Mit dem bin ich auch in Kontakt gekommen, war befreundet mit ihm.
Die haben mir dann viel erzählt, da habe ich viel erfahren. Da ist es um Glücksspiel gegangen, ich bin mit dem Schmutzer ganze Nächte zusammen gesessen, um die Gaunersprache mit ihm durch zu gehen. Mit dem habe ich sogar "Fingerhackl" gezogen, der hat mir den Finger so gezogen, dass alles eingerissen war und ich zwei Monate mit ausgestrecktem Finger gehen musste. Er ist ein Riegel von Mensch. Als Feldforscher kann man auch Probleme haben.
Der Taschner, eine Berühmtheit, ist leider schon vor gut zehn Jahren gestorben. Der hat nie etwas gearbeitet. Er hat eine Gemeindewohnung bekommen mit einem Gasrechaud. Da hat etwas mit dem Abzug nicht hin gehaut. Er ist erstickt. Das war eigentlich ein schöner Tod für ihn. Er war ein netter Kerl. Schwierig, aber nett.

FERNSEHSENDUNG AKTENZEICHEN XY…UNGELÖST
Er war stolz darauf, dass er zwei Mal in (Aktenzeichen) XY genannt wurde als der meist gesuchte Verbrecher Österreichs, nur wegen Rauferei innerhalb der Szene. Er hat nie jemandem etwas getan außerhalb der Szene. Also, darauf war er stolz. XY war für ihn so etwas wie Seitenblicke für Ganoven. Da hat er auf den Tisch gehaut. Er hat auch die Zeitungsausschnitte über sich gesammelt. So wie ein Wissenschaftler seine Arbeiten aufhebt.
Er ist mit einem Kinderschänder in der Zelle gelegen. Da musste der Kinderschänder unter dem Bett liegen. Er wollte mit ihm nichts zu tun haben. Oder dieser Jack Unterweger. Der hat mir geschrieben aus dem Gefängnis, weil er gewusst hat, mich interessiert Kriminalität. Da hat der Taschner gesagt: "Dem schreibst net z‘ruck. Mit dem woll‘n wir nix zu tun haben. Der hat Frauen umbracht."
Da hat es einen gegeben, den Rogatsch, der hat Ende der sechziger Jahre, Anfang siebziger Jahre in der Florianigasse eine Studentin getötet. Der wurde im Gefängnis umgebracht durch einen anderen Gefangenen. So war es, wenn man eine Frau umgebracht hat. Der Taschner, ein edler Herr.

PROSEMINAR MIT TASCHNER
Der Taschner war auch ein Selbstdarsteller. Der hat es gerne gehabt, wenn er öffentlich aufgetreten ist mit mir. Ich habe ihn in die Vorlesung mitgenommen. Ich habe zwei Jahre an der Wirtschaftsuniversität ein Proseminar gehabt. Darum hat mich der dortige Professor für Soziologie gebeten. Da habe ich den Taschner mit gehabt. Das war eine Sensation, sogar im "Profil" hat es geheißen: "Taschner hält Vorlesung an der Wiener Uni." Die damaligen Studenten, heute berühmte Leute in der Wirtschaft hoch oben, die bei diesem Proseminar dabei waren, haben mir erzählt, dass sie alles vergessen hätten von der Uni, aber das Proseminar mit Taschner nicht.
Ich habe auch einmal eine Dirne mit gehabt, eine Freundin vom Taschner, eine Prostituierte. Und der Taschner hat erzählt, wie er geschossen hat, aber er hat ja niemand verletzt. Das war ihm wichtig. Er war auch bei der Polizei gar nicht so schlecht angesehen. Mir hat sogar jetzt ein Richter geschrieben. Ich habe ihm einen Gefallen gemacht. In seinem Brief erinnert er sich an den "seligen Pepi Taschner" zu einer Zeit, als Wiens Unterwelt "noch etwas wert war und starke bodenständige Persönlichkeiten aufwies", die er öfter einzulochen das Vergnügen hatte.

PROSTITUTION – KONTAKTE
Diese Frauen habe ich kennen gelernt durch den Pepi Taschner, der sie mir auf das Institut geschickt hat. Eine ist gekommen mit einem Eisenbahner, der jetzt ihr Zuhälter wurde und dem früheren Zuhälter viel Geld gezahlt hat, damit sie bei ihm ist. Das waren interessante Geschichten.
Einmal hat der Taschner einen Taschendieb mitgenommen und gesagt, den könne ich auch interviewen. Er würde ihn von der Zelle in Stein kennen. Ich habe abgelehnt, weil mich das nicht interessiert. Dann ist er um Zigaretten gegangen. Da ist ein Kollege gekommen, dem hat der Mantel und die Brieftasche gefehlt. Da hat der Taschner mit vierundzwanzig Vorstrafen zu weinen begonnen, und hat zu ihm gesagt, dass er seine Freunde hier am Institut nicht bestehlen könne. Er hat ihm auch gedroht, den Schmutzer zu holen. Da hat er alles zurückgegeben. Die Kollegen waren immer böse auf mich, haben geschimpft mit mir, dass ich diese Interviews mache.
Da habe ich an meine Tür im Institut einen Zettel gehängt: "Ich bitte meine Interviewpartner, Polizisten, Pfarrersköchinnen, Prostituierte, Taschendiebe… ihren Beruf nicht in den Räumen des Instituts auszuüben." Das habe ich gemacht, damit ich kein Problem mehr habe mit den Kollegen.

PROSTITUTION – VERÄNDERUNGEN
Die Prostitution ist jetzt eine andere, nicht mehr dieser Straßenstrich. Eher in den Wohnungen oder in den Bars, aber vor allem im Internet oder in den Zeitungen. Das tritt an die Stelle der alten Positionen. Sicher gibt es noch Bars, aber ob die sich noch lange halten, weiß ich nicht.
Durch diese Kontakte habe ich einen Herrn kennen gelernt, der allerdings jetzt im Gefängnis sitzt. Der war so ein Chef des Gürtels, der von Schutzgeldern lebte. Der ist auch einige Zeit in meine Vorlesungen gegangen. Ich durfte regelmäßig mit Studenten in diese Bar am Gürtel gehen. Jeder Student, jede Studentin hat gratis einen Sekt bekommen, auch zu essen. Dann wurde eine Führung gemacht durch die Separees.

BAUERN – ALTE WELT
Dann hat mich auch die Buntheit der Welt interessiert. Ich habe auch über Bauern geschrieben. Mich hat der Wandel der bäuerlichen Kultur interessiert – wie sich eine alte Welt verwandelt. Wir leben in einer vollkommen anderen Welt. Woher kommen unsere Nahrungsmittel heute? Aus Deutschland, aus Holland… Früher waren das unsere Bauern, die Wien beliefert haben. Wir leben in einer anderen Welt.
Ich bin zu den Bauern gegangen mit meinem Dackel, habe sie interviewt, um zu sehen, wie diese alte Welt ausgesehen hat. Da hat sich in ganz Österreich etwas verändert. Man gibt sich zwar in die Wohnungen Bauernmöbel, vergisst aber, dass mit diesen Bauern eine spannende Kultur verbunden ist. Eine alte Sprache. Ich habe mich damit beschäftigt. Das sind alte, interessante Wörter, die auf das Gotische, auch auf das Griechische zurückgehen. Kennen sie das Wort für Hemd? Kennen Sie das Wort "Pfort" für Hemd. Das geht auf das Griechische zurück. "Peite" heißt das Fellhemd. Diese alte Bauernsprache stirbt aus. Das habe ich noch versucht festzuhalten.

GRENZEN – SCHMUGGLER
Dann interessieren mich alle Leute, die so am Rande der Gesellschaft leben. Dazu gehören auch die Schmuggler. Ich habe da am Mexikoplatz geforscht. Das war interessant. Durch diesen Niedergang der Grenzen – was da alles vertrieben wurde. Was ich da alles gekauft und kennen gelernt habe. Leute, die perfekt russisch konnten, ukrainisch, deutsch, israelisch. Die brauchen keine Schulen, die handeln, sind auch Schmuggler. Auch das habe ich bearbeitet, mit Leuten geredet.
Dann bin ich mit dem Rad die österreichischen Grenzen abgefahren. Da habe ich Kontakte zu alten Schmugglern aufgenommen. Immer bin ich zu solchen Leuten gekommen. Die habe ich dann auch interviewt. Die haben in der Zeit nach dem Krieg, der Zeit der Armut, Waren nach Italien geschmuggelt und von dort wieder welche herüber. Vieh haben sie hinüber gebracht, Kaffee, Zucker haben sie eingekauft. Da habe ich eine echte Radtour gemacht. Das hat mir auch gefallen. Ich bin mit dem Rad bis Assisi und Paris gefahren. Die Grenzen haben mich interessiert. Da habe ich einiges gearbeitet, ein Buch geschrieben.

UHREN – SAMMLUNG
Am Mexikoplatz hat es Uhren gegeben, russische Uhren. Die waren nicht teuer, fünfzig bis hundert Schillinge. Ich habe einige gekauft. Aber dadurch, dass ich die Uhren gekauft habe, bin ich wieder ins Gespräch gekommen. Diese Uhren gefallen mir heute noch. Ich glaube, ich besitze siebzig Uhren. Das hat mir Spaß gemacht. Ich habe einige auch weiter geschenkt, auch der Adolf Holl hat eine.
Da bin ich mit jemanden durch den Markt gegangen, der hebräisch konnte, der hat mir dann gesagt, was da geredet wird, nachdem sie mit mir gesprochen haben.

VERBOTENE MÄRKTE
Ich habe einiges erlebt. Auch beschrieben habe ich meine Beobachtungen, das Leben und Treiben auf den Märkten. Das ist unheimlich interessant. Beim Entlastungsgerinne sind die Polen zusammen gekommen. Jeden Sonntag war dort Schwarzmarkt. Wenn die Polizei gekommen ist, waren sie dahin. Das war eine wilde Sache. Ich glaube, die menschliche Kultur ist auch eine Kultur der Schmuggler, der Leute, die Sachen von einem Teil der Erde zum anderen bringen. Auch die Opern sind voll damit, Carmen zum Beispiel. Wie ich meine Arbeit über Schmuggler geschrieben habe, habe ich immer "Carmen" angehört. Da geht es um alte Schmuggelwege.
Da gibt es einen Witz: Es kommt jemand in eine fremde Stadt, hat kein Geld, setzt sich in ein Kaffeehaus und fragt, was da verboten wäre. Ja, mit dem kann man Geschäfte machen.

WILDERER – EHRENKODEX
Ich behaupte, die ersten weidmännischen Jäger waren die Wilderer. Der Erzherzog Johann übernimmt das interessanterweise. Er sagt, man müsse mit einem Schuss zufrieden sein, mit einem Stück Wild. So kann ich die Jagd noch akzeptieren, aber nicht diese Verirrungen, die sich zeigen, wenn Leute aus dem Auto heraus schießen oder nur ihre Trophäen jagen.
Die alten Wilderer waren hochangesehen und haben einen Ehrenkodex gehabt. Zum Beispiel dufte man die Muttergams nicht weg schießen, oder überhaupt nicht alles schießen. Man kann das ja auch ein bisserl einschränken.

WILDERERMUSEUM ST. PANKRAZ (OÖ)
Auf Grund des Buches wurde ich gebeten von Leuten aus St. Pankraz – der Schiweltmeister (Hannes) Trinkl war dabei – mit ihnen ein Wilderer-Museum aufzumachen. Sie haben ein Thema gesucht für ein Museum, da sind sie auf Wilderer gekommen. Zuerst wollten sie ein Museum für Frauen und Arbeit, aber da haben sie gemeint, da käme niemand. Dann sind sie auf die Wilderer gekommen. Da habe ich dann mit ihnen das Wilderer-Museum aufgemacht. Mit recht tüchtigen Damen. Es ist ein schönes, interessantes Museum, ein bisserl mit Augenzwinkern, mit Schmäh. Aber es ist spannend.
Der Wildschütz, er wird ja verehrt in den Liedern – aber nur die Wilderer, die keine Schlingen legen. Die Schlingenleger sind nicht geachtet. Während des Krieges wurden auf Wunsch vom Hitler die sogenannten "anständigen" Wilderer, die mit der Büchse unterwegs waren, aus den Gefängnissen geholt. Nicht die Schlingenleger. Man hat geglaubt, dass die mit der Büchse gute Schützen sind. Die haben sie dann in eigene Gruppen gegeben. Da gibt es ein Buch "Antifaschist in SS-Uniform". Diese Kriminellen haben sie in SS-Uniformen gesteckt. Na ja, es waren keine Kriminellen, sondern Wilderer.

FUSSBALL – MYTHEN
Was charakteristisch ist für Stammeskrieger, aber auch für Fußballfans: dass sie Mythen entwickeln über Heldentaten. Ich war bei meinem Chef, der Rapid-Fan war. Er hat mir da seine Heiligtümer gezeigt. In der Mitte der Wohnung hatte er etwas wie einen Altar, da konnte man eine Zeitung vom 23. Juni 1941 hinter Glas sehen.
Am 22. Juni 1941 war der Angriff auf Russland, eine wichtige Sache. Dieses Thema war erst die zweite Zeile. "Rapid deutscher Fußballmeister" war die Schlagzeile. Rapid hat im Berliner Olympiastadion 4:3 gegen Schalke04 gewonnen. Dann erst kam "Erste Kämpfe an der Ostfront". Schalke hatte schon 3:0 geführt, Rapid danach noch vier Tore geschossen. Da ist Bimbo Binder berühmt geworden.

STUDIEN – LEHRE AN DER UNIVERSITÄT
Alle diese Studien waren verbunden mit meiner Lehre an der Universität. Ich habe über Schmuggler Vorlesungen gehalten, über Prostituierte, und habe auch versucht, den Studenten klar zu machen, wie wichtig es ist, dass man durch direkten Kontakt etwas lernen kann. Nicht durch Fragebögen. Geben Sie einem Sandler einen Fragebogen, der wird ihn nicht ausfüllen.
Die Studenten waren recht dankbar. Von der Exkursion ins Bordell reden manche heute noch. Jetzt sitzt er im Gefängnis leider, dieser Herr – war aber sehr nett zu mir. Ich habe einmal Schwierigkeiten mit meinem Schwiegersohn gehabt. Da hat er mich gefragt: "Soll ich mit ihm reden?" Ich habe geantwortet: "Noch nicht". Also nette Leute.

WIEN
Ich liebe Wien. Ich bin hier geboren, war zwar einige Zeit auf dem Land, wo ich auch ganz gerne bin, aber Wien ist für mich DIE Stadt der Welt. Ich kenne viele Städte: Paris, Berlin, Istanbul, aber keine gefällt mir so wie Wien. Diese Vielzahl von Kulturen, die schon mit der Geschichte zusammenhängt, schon vor den Habsburgern. Da kommt alles zusammen, die Magyaren, die Slawen, die Bayern, die Goten. Die Awaren bringen die Steigbügel mit, vermischen sich dann, das kann man anthropologisch feststellen, mit den Kuenringern. Da gibt es Edelfräuleins, die fast mongolische Merkmale haben. Eine Mischung ist da.
Aber die Mischung ist ja überall, denn die menschliche Kultur ist eine Kultur der Wanderer. Es gibt schon Gegenden, wo die Leute nicht wandern, na gut. Aber grundsätzlich ist unsere Kultur eine Kultur der Wanderer. Wir bestehen aus Wanderern, welche hierhergekommen sind. Alle großen Kulturen sind Wanderer.

WIEN – GEOLOGIE
Ich wohne schon seit 1959 in Wien. Was mich an Wien fasziniert, ist die Geologie. Hier sind die Ausläufer der Alpen, das imponiert mir, ich fahre auch gerne auf den Kahlenberg und schaue runter auf das Donautal. Da kommt die ungarische Tiefebene. Ich liebe das, wenn man da durchwandert – auch im Winter. Diese herrlichen Donaugewässer, ich liebe das, obwohl es schon viel verbaut ist. Die Lobau, etwas Herrliches! Da zieht sich‘s durch Niederösterreich, weit bis nach Hainburg hinunter. Das ist schön, dann gefällt mir auch die Gegend um den Bisamberg, in das Weinviertel hinein.
In Grinzing und Nußdorf haben wir den Wein. Diese Buntheit gefällt mir in Wien. Ich erhole mich, wenn ich mich bewegen will. Ich liebe zum Beispiel den Donaukanal. Da gehe ich oft entlang oder fahre mit dem Rad bis zum Ende, bis in die Freudenau, wo er in die Donau fließt. Da komme ich schon fast ans Meer. Das ist schon eine interessante Welt, die mit Wien verbunden ist.
Wien, da habe ich ja meine Frau kennen gelernt. Sie ist Wienerin. Das ist schon eine interessante Welt, die mit Wien verbunden ist. Wien ist "klass", die Menschen sind gut. Ich glaube, es war Oscar Strauss, der gesagt hat: "Falsch sind die Leut‘ überall auf der Welt, aber in Wien sind sie so angenehm falsch."
Das mag sein, dass die Wiener zwar falsch, aber angenehm sind. DEN Wiener gibt es nicht. Angeblich ist Wien die größte Stadt von Vorarlberg, Wien ist eine tolle Mischung!

Archiv-Video vom 04.07.2013:
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Roland Girtler (Soziologe)

Roland Girtler gilt als unkonventionellster Wissenschaftler Österreichs. Der - mit Ausnahme einer zweijährigen Unterbrechung aufgrund einer Berufung nach München - seit 1972 an der Wiener Universität unterrichtende Soziologe hat die Wissenschaft aus der Studierstube ins pralle Leben verlagert. Mit dem Fahrrad, zu Fuß oder per Autostopp war er unterwegs, um in Kontakt mit jenen Randgruppen zu treten, denen sein Interesse gilt. In seinen Arbeiten beschrieb er das Leben von Gaunern, Vagabunden, Dirnen, Zuhältern, Schmugglern und Wilderern und verfasste außerdem ein Buch über die alte Gaunersprache. Dass er dabei Kriminelle an die Uni holte und mit Studenten Ausflüge ins Rotlichtmilieu unternahm, trug ihm anfangs viel Kritik ein. Letztlich aber zählen in der Wissenschaft Ergebnisse - und die waren von Anfang an derart beeindruckend, dass sich auch Professorenkollegen und Hofräte überzeugen ließen.

Länge: 50 Min. 26 Sek.
Produktionsdatum: 2012
Copyright: Stadt Wien

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Wiener Märkte digital

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Wiens Märkte werden digital: Standler*innen können nun Marktplätze bequem via PC, Handy oder Tablet buchen – das natürlich rund um die Uhr. Der Marktplatz kann dann am gebuchten Markttag sofort bezogen werden. Auch Anträge können im One-Stop-Shop der Stadt Wien unter www.mein.wien.gv.at für zum Beispiel fixe Zuweisungen, Schanigärten oder marktbehördliche Bewilligungen online gestellt werden. Ein weiteres Service: der Status der Anträge ist auf der Übersichtsseite abrufbar.
Länge: 1 Min. 51 Sek. | © Stadt Wien - Magistratsabteilung 59
Enthüllung neue Pionierinnen

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Zum Frauentag holt die Stadt Wien zwei neue „große Töchter“ vor den Vorhang: Im Arkadenhof des Rathauses werden für Ingeborg Bachmann und Luise Fleck zwei Gedenktafeln in der Pionierinnengalerie enthüllt. Die Galerie stellt außergewöhnliche Frauen der Stadt, ihr Engagement, ihr Handeln und ihre Leben in den Mittelpunkt. Ingeborg Bachmann war eine heimische Schriftstellerin, die als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts gilt. In ihren Werken widmete sich die Klagenfurterin Themen wie die Rolle der Frau in der männlich geprägten Gesellschaft oder den Konsequenzen und dem Leid von Kriegen. Sie verstarb 1973 in Rom, seit 1977 wird jährlich der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Luise Fleck war die erste österreichische und weltweit zweite Frau, die als Filmregisseurin und Produzentin Erfolg hatte. Sie führte bei mehr als 100 Filmen Regie und schrieb auch 20 Drehbücher. Besondere Bekanntheit erlangte sie in der Zeit während der Wende von Stumm- zu Tonfilmen. Sie starb 1950 in Wien. Die nun 30 Porträts der großen Töchter der Stadt können noch bis 31. März im Arkadenhof des Wiener Rathauses besichtigt werden.
Länge: 2 Min. 47 Sek. | © Stadt Wien / KOM

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