3.6 Exkurs: Mehrsprachigkeit von SchülerInnen
In regelmäßigen Abständen werden in Österreich Daten zur „Umgangssprache“ von SchülerInnen veröffentlicht. Diese Daten beruhen auf der Schulstatistik der Statistik Austria, allerdings werden in dem der Befragung zugrunde liegenden Gesetz, dem Fragebogen und der öffentlichen Kommunikation des Themas unterschiedliche Begriffe miteinander vermischt. In diesem Abschnitt wird nun untersucht, was diese Statistik aussagen kann und welche Schlüsse damit nicht möglich sind.
Die Statistiken zur „Umgangssprache“ der Wiener SchülerInnen erlauben keine Aussagen über Deutschkenntnisse oder die „zu Hause“ gesprochenen Sprachen. Stattdessen wird abgebildet, ob Kinder mehrsprachig aufwachsen.
Die rechtliche Grundlage der Erhebung ist das Bildungsdokumentationsgesetz. Dieses schreibt in einer Anlage zahlreiche Daten vor, die im Zusammenhang mit dem Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen erhoben werden müssen. Dazu gehören Informationen wie die Staatsangehörigkeit oder das Geschlecht ebenso wie die Erhebung der „im Alltag gebrauchte(n) Sprache(n)“. Die Begriffe „Muttersprache“ oder „Umgangssprache“ finden sich weder in diesem Gesetz noch in der zugehörigen Bildungsdokumentationsverordnung zur Durchführung des Gesetzes.
Die erforderlichen Daten werden auf Grundlage eines „Schülerblatts zur Schulstatistik“ der Statistik Austria erhoben. Dort wird jedoch nicht nach den „im Alltag gebrauchte(n) Sprache(n)“ gefragt, sondern nach der „Muttersprache 1“, „Muttersprache 2“ sowie „Muttersprache 3“. In den Erläuterungen zum Schülerblatt wird explizit darauf hingewiesen, dass in vielen Familien mehrere Sprachen gesprochen werden und Kinder in ihrem Alltag je nach Situation und Thema andere Sprachen einsetzen. Daher wird festgelegt, dass bei „mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern im Feld ‚Muttersprache 1‘ die Muttersprache (Erstsprache) einzutragen (ist), in den folgenden Feldern ‚Muttersprache 2‘ bzw. ‚Muttersprache 3‘ die weiteren im Alltag gesprochenen Sprachen.“ Diese Möglichkeit, mehrere Sprachen anzugeben, wird – wie Daten der Schulstatistik zeigen – im Moment von den Schulen noch kaum genutzt. In den Schulen wird die „Muttersprache“ durch die Direktion und die Sekretariate im Rahmen der Einschreibung mit den Eltern erhoben.
Auf dieser Grundlage wird anschließend die Statistik über die „Umgangssprache“ der SchülerInnen erstellt. Dafür wird jedoch nur die erste der bis zu drei genannten Sprachen herangezogen und als „Umgangssprache“ bezeichnet. Selbst wenn in den (insgesamt leider kaum verwendeten) Feldern „Muttersprache 2“ oder „Muttersprache 3“ noch Deutsch angegeben wurde, wird dies in der Statistik nicht berücksichtigt.
Mit dieser eingeschränkten Vorgehensweise wird der für viele SchülerInnen alltägliche Umgang mit mehreren Sprachen ausgeblendet. In der Schule sind alle Kinder mit Deutsch konfrontiert, und in zahlreichen Wiener Familien werden mehrere Sprachen gesprochen – auf der einen Seite Deutsch und auf der anderen Seite die in den Herkunftsländern der Eltern gesprochenen Sprachen. Diese Mehrsprachigkeit der Kinder ist eine positive Ressource – für die Kinder selbst und auch aus der Perspektive der Stadt. Es ist daher sogar wünschenswert, wenn Eltern ihren Kindern die Sprachen ihrer Herkunftsländer vermitteln. Auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht gilt eine gute Beherrschung der Erstsprache als wichtige Grundlage für das Erlernen von Deutsch als Zweitsprache.
Eine Aussage über die Deutsch-Kenntnisse der SchülerInnen zu treffen ist mit der Statistik zur „Umgangssprache“ nicht möglich. Ebenso wenig kann festgestellt werden, welche Sprache oder welche Sprachen diese Kinder zu Hause oder „auf dem Schulhof“ sprechen. Denn obwohl laut Gesetz eigentlich die im Alltag gesprochenen Sprachen erhoben werden sollten, wird am ehesten die Muttersprache oder Erstsprache erhoben. Implizit wird auf diese Weise erfasst, wie viele Kinder mehrsprachig aufwachsen – denn selbst Kinder, die zu Hause mit ihren Eltern nicht Deutsch sprechen (können), sind in Schule und Alltag mit Deutsch konfrontiert. In Abbildung 14 wurde daher bewusst auf den Begriff „nicht-deutsche Umgangssprache“ verzichtet. Im Schuljahr 2018/19 lag der Anteil der mehrsprachig aufwachsenden SchülerInnen in Wien bei 52,2 %.
52 % der Wiener SchülerInnen wachsen mehrsprachig auf
Abb. 14: 52 % der Wiener SchülerInnen wachsen mehrsprachig auf
Anteil der SchülerInnen in Wien mit einer anderen Erstsprache als Deutsch seit dem Schuljahr 2006/07 (in %)
Quelle: Grafik & Berechnung: Stadt Wien – Integration und Diversität, Daten: Statistik Austria – STATcube (Schulstatistik)
Anteil mit Muttersprache nicht Deutsch | |
---|---|
2006/07 | 38,2 |
2007/08 | 39,5 |
2008/09 | 40,9 |
2009/10 | 41,8 |
2010/11 | 43,3 |
2011/12 | 44,3 |
2012/13 | 45,1 |
2013/14 | 46 |
2014/15 | 47,5 |
2015/16 | 49,7 |
2016/17 | 51,2 |
2017/18 | 51,9 |
2018/19 | 52,2 |
Wiener Lebensqualitätsstudie: Sprachen der Wiener Bevölkerung
In Bezug auf die gesamte Bevölkerung in Wien zeigen Daten der Wiener Lebensqualitätsstudie 2018, dass für 58 % der WienerInnen mit Migrationshintergrund der ersten Generation und für 77 % der WienerInnen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation Deutsch die im Alltag am häufigsten gesprochene Sprache ist. Gleichzeitig spielt Mehrsprachigkeit eine bedeutende Rolle: 86 % der WienerInnen mit Migrationshintergrund der ersten Generation sprechen in ihrem Alltag mindestens zwei verschiedene Sprachen, und auch in der zweiten Generation liegt der Anteil noch bei 75 % (Abb. 15).

Abb. 15: Für die meisten WienerInnen mit Migrationshintergrund ist Deutsch die wichtigste Sprache im Alltag
Antworten der Wiener Bevölkerung auf die Frage „Welche Sprache sprechen Sie im Alltag am häufigsten?“ sowie die Anzahl der im Alltag gesprochenen Sprachen nach Migrationshintergrund (in %)
"Welche Sprache sprechen Sie im Alltag am häufigsten?"
Quelle: Grafik: Stadt Wien – Integration und Diversität, Quelle: Endbericht der Wiener Lebensqualitätsstudie 2018
Gesamt | kein Migrationshintergrund | Migrationshintergrund 1. Generation | Migrationshintergrund 2. Generation | |
---|---|---|---|---|
Deutsch | 88 | 99 | 58 | 77 |
Türkisch | 5 | 0 | 19 | 10 |
Bosnisch / Kroatisch / Serbisch | 3 | 0 | 12 | 6 |
Sonstige | 4 | 1 | 12 | 8 |
Abb. 15: Für die meisten WienerInnen mit Migrationshintergrund ist Deutsch die wichtigste Sprache im Alltag
Antworten der Wiener Bevölkerung auf die Frage „Welche Sprache sprechen Sie im Alltag am häufigsten?“ sowie die Anzahl der im Alltag gesprochenen Sprachen nach Migrationshintergrund (in %)
Anzahl der Sprachen im Alltag (in %)
Quelle: Grafik: Stadt Wien – Integration und Diversität, Quelle: Endbericht der Wiener Lebensqualitätsstudie 2018
Gesamt | kein Migrationshintergrund | Migrationshintergrund 1. Generation | Migrationshintergrund 2. Generation | |
---|---|---|---|---|
eine Sprache | 47 | 64 | 14 | 25 |
zwei Sprachen | 42 | 33 | 58 | 57 |
drei Sprachen oder mehr | 11 | 4 | 28 | 18 |
Fußnoten
Zurück zu Referenz- Teile dieses Abschnitts stützen sich auf eine Stellungnahme des Verbands für Angewandte Linguistik (verbal) zum Integrationsbericht 2019 sowie auf Sabine Lehner (2020). Sprachstatistiken: Kategorisierungen mit weitreichenden Folgen. Blog Arbeit & Wirtschaft. https://awblog.at/sprachstatistiken-kategorisierungen-mit-weitreichenden-folgen/
- Bundesgesetz über die Dokumentation im Bildungswesen (Bildungsdokumentationsgesetz) StF: BGBl. I Nr. 12/2002 vom 8. Jänner 2002 idgF zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 86/2019 vom 31. 7. 2019, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 Z 7, Z. 8
- Statistik Austria (2015). Schülerblatt zur Schulstatistik. http://www.statistik.at/wcm/idc/idcplg?IdcService=GET_PDF_FILE&dDocName=023149 (letzter Zugriff: 13. Jänner 2020)
- Statistik Austria (2019). Schulstatistik 2019/20. Erläuterungen zum Schülerblatt. https://docplayer.org/185750805-Schulstatistik-2019-20.html Siehe auch Schulstatistik 2022/23, Erläuterungen zum Schülerblatt, Schulstatistik 2003/04 (letzter Zugriff: 2. August 2022)
- Statistik Austria (2019). Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Umgangssprache im Schuljahr 2018/19. https://www.statistik.gv.at/fileadmin/pages/1770/1_Erlaeuterungen_Schuelerdatenmeldung.pdf (letzter Zugriff: 02. August 2022)
- Rudolf de Cillia (2017). Spracherwerb in der Migration. Informationsblätter zum Thema Migration und Schule Nr. 3/2016-17. Wien: Bundesministerium für Bildung. (letzter Zugriff: 9. April 2020)
- Roland Verwiebe, Raimund Haindorfer, Julia Dorner, Bernd Liedl, Bernhard Riederer (2020). Lebensqualität in einer wachsenden Stadt: Wiener Lebensqualitätsstudie 2018. Endbericht an die Stadt Wien. Wien: Universität Wien, Institut für Soziologie, Seite 258. https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008577.pdf (letzter Zugriff: 6. Juli 2020)