So funktioniert Contact Tracing in Wien

Contact Tracing bedeutet das Nachverfolgen von Infektionsketten. Wird eine Person positiv getestet, muss sie in Quarantäne. Abhängig vom Zeitpunkt der Infektion stecken Infizierte je nach Corona-Mutation statistisch gesehen bis zu 1,3 Menschen mit dem Virus an – deshalb ist es wichtig, ihre Kontakte nachzuverfolgen. Mit wem war eine positiv getestete Person in Kontakt, wo könnte sie sich angesteckt haben und wen könnte sie selbst angesteckt haben? Außerdem gibt es immer häufiger Personen, die symptomlos sind und nicht merken, dass sie den Virus verbreiten. Neben konsequentem Abstand halten, Maske tragen und Testen ist in diesen Fällen Contact Tracing besonders wichtig, um Infektionsketten zu durchbrechen.

750 Virus-Detektive

Die Rückverfolgung von Infektionsketten ist die Aufgabe der inzwischen 750 Contact-Tracerinnen und Contact-Tracer der Gruppe Sofortmaßnahmen und des Arbeiter Samariterbundes (ASB). Sie kontaktieren positiv getestete Personen, gehen einen definierten Fragebogen durch und erheben die direkten Verläufe. Mit wem war eine Person in Kontakt, wie hat der Kontakt stattgefunden? Wie lange waren Personen gemeinsam in einem Raum? Wurden Masken getragen? Zwischen 30 und 50 Anrufe pro Person kommen dabei zusammen.

Zu Beginn der Pandemie waren anfänglich 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Contact Tracer im Einsatz. Mit den steigenden Fallzahlen im Verlauf der Pandemie ist die Zahl auf 750 angestiegen. Sie decken mittlerweile 25 Muttersprachen ab. Täglich werden von den Wiener Contact Tracerinnen und Contact Tracern rund 2.500 Personen kontaktiert und gegebenenfalls behördlich abgesondert. Ebenso werden mehr als 1.000 E-Mails pro Tag bearbeitet.

96 Stunden in die Vergangenheit

Mit der sogenannten Briten-Mutation B1.1.7. und anderen Virus-Varianten ist die Arbeit der Contact Tracer herausfordernder geworden. Wurden anfangs bis zu 48 Stunden vor einer bestätigten Infektion aufgerollt, schauen die Virus-Detektive jetzt 96 Stunden in die Vergangenheit. Gesucht wird der sogenannte Indexfall – also jene Person, bei der sich jemand angesteckt hat. Desto ansteckender eine Virus-Variante ist, desto wahrscheinlicher sind Ansteckungen und desto mehr Infektionsketten können die Virus-Detektive unterbrechen. Der Einsatz zahlt sich aus: Wien hat im Bundesländer-Vergleich die höchste Aufklärungsquote bei Infektionen und bei Clustern.

Gepflegte Wortwahl, Aufgeschlossenheit, Computer- und Telefonkenntnisse, Fremdsprachen, schnelle Auffassungsgabe sind beim Job der Contact Tracings gefragt. Um Infektionsketten genau nachzeichnen zu können, müssen Kontakte und besuchte Orte genau hinterfragt werden, dafür braucht es neben einem gewissen Fingerspitzengefühl auch eine schnelle Kombinationsgabe. Manchmal geht es auch darum, Menschen etwas aus der Reserve zu locken, um den Indexfall zu finden, bei dem sie sich infiziert haben. Jedenfalls sind die Contact Tracerinnen und Tracer auf zwei Dinge angewiesen: Kooperation und Ehrlichkeit des Gegenübers. Ohne wahrheitsgetreue Angaben, mit wem Personen Kontakt hatten, können mögliche weitere Infizierte nicht ausfindig gemacht werden – und Infektionsketten des Virus nicht unterbrochen werden.

  • Wiens oberster Contact-Tracer, Walter Hillerer, der die Gruppe Sofortmaßnahmen leitet, erklärt im Interview in der Spalte rechts, wie das Contact-Tracing-Team arbeitet und worauf es dabei ankommt.

  • Welchen Beitrag das Contact Tracing aus epidemiologischer Sicht beiträgt und was Wien besonders gut macht, lesen Sie im Interview in der Spalte rechts mit der stellvertretenden Dienststellenleiterin des Gesundheitsdiensts der Stadt Wien (MA 15), Ursula Karnthaler. Die Ärztin ist Projektleiterin für medizinische Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus.

Spezialistinnen und Spezialisten für Schulen, internationales Contact-Tracing

Neben den „regulären“ Contact Tracerinnen und Tracern gibt es auch spezielle Teams, die sich mit Bildungseinrichtungen oder dem internationalen Contact-Tracing beschäftigen. In Schulen oder Einrichtungen gibt es häufig nicht nur einen isolierten Fall einer Infketion, sondern gleich mehrere Fälle. Um herauszufinden, wie der Cluster zusammenhängt und wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass sich mehrere Personen infizieren, kommen auch mobile Erhebungsteams zum Einsatz. Wo eine Abklärung über das Telefon nicht möglich ist, oder bei besonders kniffligen Fällen, schauen sich die mobilen Teams die Gegebenheiten vor Ort an. Sie gehen der Frage auf den Grund, warum es einen Cluster in einer bestimmten Schule oder Einrichtung gibt und in anderen nicht – und spielen ihre Erkenntnisse an die städtische Gesundheitsbehörde zurück, die dann wiederum Lösungsvorschläge machen kann.

Digitalisierung und Daten im Kampf gegen das Virus

Alle Erkenntnisse der Contact TracerInnen werden in eine eigene Software eingespielt und an den Gesundheitstdienst der Stadt Wien (MA 15) weitergegeben. Im Cluster Monitoring der MA 15 im Datenkompetenzzentrum werden die Daten ausgewertet und Verbindungen zwischen einzelnen Infektionsfällen ausgemacht und die Infektionskette zwischen einzelnen Fällen dargestellt. In einer Millionenstadt keine Kleinigkeit: Um die großen Datenmengen zu bewältigen, kommen technische Lösungen zum Einsatz. Seit letztem Herbst ist ein Software Tool im Einsatz, das mit der Firma „Upstream Mobility“ entwickelt wurde.

Die Software von Upstream Mobility kann über mehrere Algorithmen die Informationen, die vom Contact Tracing-Team in das System 'EpiSYS' eingespielt werden, in einem Datenabzug vergleichen. Auf Basis dieser Auswertungen werden die Berichte an den medizinischen Krisenstab der Stadt Wien gemacht. Auf Basis dieser Daten wird auch die Corona-Ampelkommission des Bundes zur Aufklärungsrate in Wien informiert.

Eine Infografik zum Contact Tracing

Grafik Contact Tracing in Zahlen - Download (PNG 383.0 KB) - PID

Aufklärungs-Quote Contact Tracing - Download (PDF 56.0 KB)

Mehr als 700 MitarbeiterInnen arbeiten beim Contact Tracing der Stadt Wien. (Download (JPG 128 KB) - PID/Jobst

Eine grafische Darstellung eines Corona-Clusters in der Software von Upstream Mobility.

Eine grafische Darstellung eines Beispiel-Clusters im von der Stadt Wien verwendeten Contact-Tracing-Tool von Upstream Mobility. Hier gibt es eine interaktive Version.

Im Stadt Wien Podcast sprechen Expertinnen und Experten über das Eindämmen des Corona-Virus. Auch das Contact Tracing wird in dieser Episode ausführlich behandelt.

Interview mit Walter Hillerer

Walter Hillerer leitet in der Wiener Stadtverwaltung die „Gruppe Sofortmaßnahmen“ und ist oberster Contact-Tracer der Stadt.

Frage: Nehmen wir das Beispiel - ich werde jetzt positiv auf Covid-19 getestet, also ich habe mich infiziert. Wie kommen die Tracer und Tracerinnen zu meinen Daten und was passiert dann in Folge?

Walter Hillerer: Die Gesundheitsbehörde bekommt die Daten vom Labor, wenn Personen positiv getestet werden und in erster Linie ist unsere Aufgabe, diese Menschen in Quarantäne zu setzen. Wir nennen das Absondern. Das bedeutet: Wir bekommen die Nachricht, dass jemand – in dem Fall Sie – positiv sind und werden dann von uns angerufen, von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Contact-Tracing-Teams und Ihnen wird mitgeteilt, dass Sie positiv getestet wurden und dass Sie sich jetzt in Quarantäne befinden. Das bekommen Sie auch in einem schriftlichen Bescheid. In weiterer Folge werden Sie von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr freundlich gefragt, welche Kontakte Sie hatten, wo Sie aufhältig waren, ob Sie einen Verdacht haben, wo Sie sich angesteckt haben, et cetera. Und das Ganze wird in einem Dateiblatt elektronisch eingetragen.

Frage: Was wird denn genau abgefragt?

Walter Hillerer: Das Contact-Tracing dient ja nicht nur zur Absonderung, sondern auch zur Clusteranalyse. Clusteranalyse bedeutet: Wir versuchen herauszufinden, wo sich Menschen angesteckt haben. Und ein Cluster bedeutet, dass es an einer Stelle mehrere positive Fälle gibt. Und das einzugrenzen, wenn man sagt „Okay, das ist vielleicht im Büro passiert, das ist bei einer privaten Feier passiert, das ist bei einer Veranstaltung passiert, oder wo auch immer“ dient jetzt dazu, dass wir möglichst viele Informationen bekommen von den Betroffenen, wo ein Ansteckungsherd möglich wäre. Es gibt einen Fragebogen, der ist umfangreich: Wo haben Sie sich angesteckt? Mit wem hatten Sie Kontakt? Haben Sie einen Verdacht, wo Sie sich angesteckt haben? Haben Sie Symptome, fühlen Sie sich krank, fühlen Sie sich gut? Et cetera, et cetera. Dieser Fragebogen wird laufend verbessert und verfeinert, etwa mit der Frage „Sind Sie schon geimpft?“

Frage: Was passiert, wenn Menschen nicht „mitmachen“ wollen, aus verschiedenen Gründen, weil sie sich oder ihre Mitmenschen aus Sorge oder Angst „schützen“ wollen?

Walter Hillerer: Grundsätzlich vertrauen wir darauf, dass uns die Menschen die Wahrheit sagen. Aber ja, man muss die Leute auch manchmal überzeugen. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden bei uns geschult, wir haben eigene Schulungsteams, wo auch versucht wird, das Vertrauen der angerufenen Personen zu finden; beziehungsweise die Leute auch zu überzeugen, dass sie hier nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch andere. Und dass man eigentlich schon bei der Wahrheit bleiben sollte. Aber natürlich wird man leider nie alle erreichen. Ich kann sagen: Bei der Absonderung haben wir momentan einen Prozentsatz von über 90, das heißt, wir erreichen wirklich sehr, sehr viele Leute. Und ich kann auch aus der Erfahrung sprechen: Die Menschen sehen, dass das Tracing etwas sehr Wichtiges ist. Das dient wirklich zur Bekämpfung der Pandemie und wir bekommen relativ viele Daten beziehungsweise viele Aussagen der Personen, die wir dann nachvollziehen können.

Frage: Solche Gespräche sind nicht immer einfach. Wie werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschult? Psychologisch? Oder wird ihnen da auch erklärt, wie man dieses Gespräch auch kommunikationstechnisch am besten führt?

Walter Hillerer: Wir haben natürlich bei uns Profis sitzen, die das von der ersten Stunde an machen. Wir sind ja gewachsen, wir haben am Anfang ja nur einen kleineren Personenkreis gehabt. Man hat aber dann relativ rasch gesehen mit den steigenden Zahlen, dass wir das aus Auslangen mit dieser Personenanzahl nicht finden. Somit wurde das Team deutlich erhöht und wir haben mittlerweile einen Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnenstand von 750, von ursprünglich 120. Das ist nicht ganz einfach zu stemmen, nämlich auch in Bezug, dass wir nebenbei auch ein tolles Ergebnis abliefern wollen, aber es ist uns gelungen, doch immer wieder sehr, sehr gute Zahlen abzuliefern.

Frage: Worauf müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter achten, wenn Sie diese Telefonate führen? Das ist ja keine erfreuliche Nachricht, wenn man angerufen wird und darüber sprechen soll, dass man infiziert ist.

Walter Hillerer: Viele sind am Anfang erstaunt, manche auch erzürnt. Man muss versuchen, die Ängste zu nehmen, nämlich insofern, weil ja viele dann Angst haben, den Job zu verlieren, oder irgendwie dann in die Arbeitslosigkeit zu schlittern. Man muss an die Vernunft appellieren und versuchen, die Ängste zu nehmen. Und wir haben das festgestellt, dass in der Anfangsphase der Pandemie viel mehr Verunsicherung da war als jetzt, nach einem Jahr. Die Menschen sehen: Es ist notwendig. Natürlich gibt es manchmal Erstaunen, und im Zuge des Gesprächs stellt sich dann heraus „ah, das kann aber sein, dass es dort war“ und „das stimmt, ja dort war ich und da habe ich diese und jene Personen getroffen“ und „da kann es sein, dass ich mich angesteckt habe“. Die Gespräche verlaufen eigentlich sehr positiv. Natürlich haben wir manchmal Leute, die erbost sind, die dann einfach auflegen. Oder die uns beschimpfen. Aber da versuchen wir ganz einfach, noch einmal anzurufen und zu erklären, um ein gutes Ergebnis zu finden.

Frage: Was sind denn Extrem-Reaktionen?

Walter Hillerer: Schreien, Brüllen, Schimpfen – das kommt vor. Wir versuchen dann klar zu machen, wir als Tracer können nichts dafür, wenn sich Leute anstecken oder positiv sind. Wir versuchen menschlich vorzugehen, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und im Zuge dieses Vertrauensgewinns dann auch die Informationen herauszuziehen, die wir brauchen. Ein Geheimnis gibt es dafür nicht. Aber wir sagen auch ganz klar, dass es rechtliche Schritte gibt, wenn sich jemand partout weigert.

Frage: Wie sieht diese Konsequenz aus?

Walter Hillerer: Wir probieren es immer im Guten. Wer es telefonisch nicht sagen will, dem können wir ein mobiles Team schicken. Das ist ein bisschen beschwerlich: Das Team muss dann einen Schutzanzug anziehen und eine Schutzbrille. Diese Möglichkeit bieten wir im Notfall an. Wenn das alles nichts nützt, dann müssen wir Kontakt mit der Polizei aufnehmen, dann muss die Befragung von der Polizei durchgeführt werden. Das ist bislang nur ganz, ganz selten vorgekommen.

Frage: Gibt es eine „kritische Zahl“, oder eine kritische Größe in der Pandemie, im Infektionsgeschehen, wo Sie sagen „Da haut das nicht mehr hin“?

Walter Hillerer: Gute Frage. Unsere Überlegungen wurden immer wieder überholt von der Gegenwart. Wir haben Zahlen, die wir am Anfang für unmöglich erachtet haben, dann doch gestemmt. Weil wir einfach das Team erweitert haben. Irgendwann ist die Grenze natürlich erreicht. Wir haben jetzt 750 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich habe die Tausend immer als Grenze gesehen. Dann könnten wir 5.000 Tracings pro Tag stemmen. Die Frage ist, ob es wirklich so weit kommt.

Frage: Die meisten Cluster passieren, wenn man sich „im Haushalt“ ansteckt. Was bedeutet diese Angabe für das Contact Tracing?

Walter Hillerer: „Zu Hause“ bedeutet zum Beispiel, dass jemand es von irgendwo mitgenommen hat und zu Hause die Angehörigen ansteckt. Zu Hause bedeutet aber auch, wenn es irgendwelche Familienfeiern gibt. Das ist auch ganz schwierig zu kontrollieren, weil weder die Polizei noch die Stadt Möglichkeiten haben oder vorhaben, wo zu Hause anzuklopfen und zu sagen „Wer ist jetzt alles da?“ Wir haben leider auch viele illegale Veranstaltungen oder illegale Partys. In Kellerräumlichkeiten, in Lokalen, wo wir ständige Kontrollen machen und wo sehr viele Hinweise aus der Bevölkerung kommen, wo Nachschau gehalten wird. Da gibt es illegale Spielklubs im Keller, wo auch nebenbei Prostitution ausgeübt wird, wo illegales Glücksspiel ausgeführt wird und, und, und. Wir haben da ein sehr großes Betätigungsfeld, gemeinsam mit der Wiener Polizei gegen diese schwarzen Schafe vorzugehen.

Frage: Die Contact Tracerinnen und Tracer führen viele Telefonate – was ist denn der Eindruck der Gesellschaft momentan?

Walter Hillerer: Ich bin kein Statistiker, aber was ich merke: Teile der Bevölkerung halten das alles für einen Unsinn, und glauben, sie sind sowieso unverwundbar. Die gibt es einfach, die wird man auch nicht erreichen. Ein Großteil der Bevölkerung ist sehr vernünftig. Es ist eine Belastung, das sehen viele. Sie haben im eigenen Bereich – Familie oder Freundeskreis, Bekanntenkreis, Arbeitskollegen – Erfahrungen gemacht, dass Leute erkrankt sind und auch Folgewirkungen haben nach der Erkrankung. Im Contact Traing müssen wir den Leuten natürlich das glauben, was sie uns erzählen. Ob immer alle die Wahrheit erzählen, das kann ich Ihnen nicht sagen.

Frage: Wie steht es um die Aufklärungsquote in Wien?

Walter Hillerer: Da bin ich sehr, sehr stolz. Bei der Absonderung sind wir zwischen 93 und 97 Prozent, bei der Clusteranalyse sind weit über 60 Prozent. Es freut mich, das sagen zu dürfen, in Wien sind wir die Ersten in ganz Österreich.

Frage: Kommt man beim Contact Tracing auf die 100 Prozent? Das müsste doch das Ziel sein.

Walter Hillerer: 100 Prozent wird es nie geben, weil manche einfach nicht mitmachen wollen. Die erreicht man einfach nicht, weil sie auch nicht wollen. Und ich würde nicht sagen, dass Contact Tracing das alleinige Heilmittel ist. Wir haben mehrere Schlüssel zum Erfolg: Der erste Schlüssel sind die Impfungen, der zweite Schlüssel sind die Testungen und der dritte Schlüssel ist das Contact Tracing. Mit diesen drei Dingen zusammen hoffe ich, dass wir das noch besser in den Griff bekommen.Interview mit Walter Hillerer

Walter Hillerer leitet in der Wiener Stadtverwaltung die „Gruppe Sofortmaßnahmen“ und ist oberster Contact-Tracer der Stadt.

Frage: Nehmen wir das Beispiel - ich werde jetzt positiv auf Covid-19 getestet, also ich habe mich infiziert. Wie kommen die Tracer und Tracerinnen zu meinen Daten und was passiert dann in Folge?

Walter Hillerer: Die Gesundheitsbehörde bekommt die Daten vom Labor, wenn Personen positiv getestet werden und in erster Linie ist unsere Aufgabe, diese Menschen in Quarantäne zu setzen. Wir nennen das Absondern. Das bedeutet: Wir bekommen die Nachricht, dass jemand – in dem Fall Sie – positiv sind und werden dann von uns angerufen, von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Contact-Tracing-Teams und Ihnen wird mitgeteilt, dass Sie positiv getestet wurden und dass Sie sich jetzt in Quarantäne befinden. Das bekommen Sie auch in einem schriftlichen Bescheid. In weiterer Folge werden Sie von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr freundlich gefragt, welche Kontakte Sie hatten, wo Sie aufhältig waren, ob Sie einen Verdacht haben, wo Sie sich angesteckt haben, et cetera. Und das Ganze wird in einem Dateiblatt elektronisch eingetragen.

Frage: Was wird denn genau abgefragt?

Walter Hillerer: Das Contact-Tracing dient ja nicht nur zur Absonderung, sondern auch zur Clusteranalyse. Clusteranalyse bedeutet: Wir versuchen herauszufinden, wo sich Menschen angesteckt haben. Und ein Cluster bedeutet, dass es an einer Stelle mehrere positive Fälle gibt. Und das einzugrenzen, wenn man sagt „Okay, das ist vielleicht im Büro passiert, das ist bei einer privaten Feier passiert, das ist bei einer Veranstaltung passiert, oder wo auch immer“ dient jetzt dazu, dass wir möglichst viele Informationen bekommen von den Betroffenen, wo ein Ansteckungsherd möglich wäre. Es gibt einen Fragebogen, der ist umfangreich: Wo haben Sie sich angesteckt? Mit wem hatten Sie Kontakt? Haben Sie einen Verdacht, wo Sie sich angesteckt haben? Haben Sie Symptome, fühlen Sie sich krank, fühlen Sie sich gut? Et cetera, et cetera. Dieser Fragebogen wird laufend verbessert und verfeinert, etwa mit der Frage „Sind Sie schon geimpft?“

Frage: Was passiert, wenn Menschen nicht „mitmachen“ wollen, aus verschiedenen Gründen, weil sie sich oder ihre Mitmenschen aus Sorge oder Angst „schützen“ wollen?

Walter Hillerer: Grundsätzlich vertrauen wir darauf, dass uns die Menschen die Wahrheit sagen. Aber ja, man muss die Leute auch manchmal überzeugen. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden bei uns geschult, wir haben eigene Schulungsteams, wo auch versucht wird, das Vertrauen der angerufenen Personen zu finden; beziehungsweise die Leute auch zu überzeugen, dass sie hier nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch andere. Und dass man eigentlich schon bei der Wahrheit bleiben sollte. Aber natürlich wird man leider nie alle erreichen. Ich kann sagen: Bei der Absonderung haben wir momentan einen Prozentsatz von über 90, das heißt, wir erreichen wirklich sehr, sehr viele Leute. Und ich kann auch aus der Erfahrung sprechen: Die Menschen sehen, dass das Tracing etwas sehr Wichtiges ist. Das dient wirklich zur Bekämpfung der Pandemie und wir bekommen relativ viele Daten beziehungsweise viele Aussagen der Personen, die wir dann nachvollziehen können.

Frage: Solche Gespräche sind nicht immer einfach. Wie werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschult? Psychologisch? Oder wird ihnen da auch erklärt, wie man dieses Gespräch auch kommunikationstechnisch am besten führt?

Walter Hillerer: Wir haben natürlich bei uns Profis sitzen, die das von der ersten Stunde an machen. Wir sind ja gewachsen, wir haben am Anfang ja nur einen kleineren Personenkreis gehabt. Man hat aber dann relativ rasch gesehen mit den steigenden Zahlen, dass wir das aus Auslangen mit dieser Personenanzahl nicht finden. Somit wurde das Team deutlich erhöht und wir haben mittlerweile einen Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnenstand von 750, von ursprünglich 120. Das ist nicht ganz einfach zu stemmen, nämlich auch in Bezug, dass wir nebenbei auch ein tolles Ergebnis abliefern wollen, aber es ist uns gelungen, doch immer wieder sehr, sehr gute Zahlen abzuliefern.

Frage: Worauf müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter achten, wenn Sie diese Telefonate führen? Das ist ja keine erfreuliche Nachricht, wenn man angerufen wird und darüber sprechen soll, dass man infiziert ist.

Walter Hillerer: Viele sind am Anfang erstaunt, manche auch erzürnt. Man muss versuchen, die Ängste zu nehmen, nämlich insofern, weil ja viele dann Angst haben, den Job zu verlieren, oder irgendwie dann in die Arbeitslosigkeit zu schlittern. Man muss an die Vernunft appellieren und versuchen, die Ängste zu nehmen. Und wir haben das festgestellt, dass in der Anfangsphase der Pandemie viel mehr Verunsicherung da war als jetzt, nach einem Jahr. Die Menschen sehen: Es ist notwendig. Natürlich gibt es manchmal Erstaunen, und im Zuge des Gesprächs stellt sich dann heraus „ah, das kann aber sein, dass es dort war“ und „das stimmt, ja dort war ich und da habe ich diese und jene Personen getroffen“ und „da kann es sein, dass ich mich angesteckt habe“. Die Gespräche verlaufen eigentlich sehr positiv. Natürlich haben wir manchmal Leute, die erbost sind, die dann einfach auflegen. Oder die uns beschimpfen. Aber da versuchen wir ganz einfach, noch einmal anzurufen und zu erklären, um ein gutes Ergebnis zu finden.

Frage: Was sind denn Extrem-Reaktionen?

Walter Hillerer: Schreien, Brüllen, Schimpfen – das kommt vor. Wir versuchen dann klar zu machen, wir als Tracer können nichts dafür, wenn sich Leute anstecken oder positiv sind. Wir versuchen menschlich vorzugehen, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und im Zuge dieses Vertrauensgewinns dann auch die Informationen herauszuziehen, die wir brauchen. Ein Geheimnis gibt es dafür nicht. Aber wir sagen auch ganz klar, dass es rechtliche Schritte gibt, wenn sich jemand partout weigert.

Frage: Wie sieht diese Konsequenz aus?

Walter Hillerer: Wir probieren es immer im Guten. Wer es telefonisch nicht sagen will, dem können wir ein mobiles Team schicken. Das ist ein bisschen beschwerlich: Das Team muss dann einen Schutzanzug anziehen und eine Schutzbrille. Diese Möglichkeit bieten wir im Notfall an. Wenn das alles nichts nützt, dann müssen wir Kontakt mit der Polizei aufnehmen, dann muss die Befragung von der Polizei durchgeführt werden. Das ist bislang nur ganz, ganz selten vorgekommen.

Frage: Gibt es eine „kritische Zahl“, oder eine kritische Größe in der Pandemie, im Infektionsgeschehen, wo Sie sagen „Da haut das nicht mehr hin“?

Walter Hillerer: Gute Frage. Unsere Überlegungen wurden immer wieder überholt von der Gegenwart. Wir haben Zahlen, die wir am Anfang für unmöglich erachtet haben, dann doch gestemmt. Weil wir einfach das Team erweitert haben. Irgendwann ist die Grenze natürlich erreicht. Wir haben jetzt 750 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich habe die Tausend immer als Grenze gesehen. Dann könnten wir 5.000 Tracings pro Tag stemmen. Die Frage ist, ob es wirklich so weit kommt.

Frage: Die meisten Cluster passieren, wenn man sich „im Haushalt“ ansteckt. Was bedeutet diese Angabe für das Contact Tracing?

Walter Hillerer: „Zu Hause“ bedeutet zum Beispiel, dass jemand es von irgendwo mitgenommen hat und zu Hause die Angehörigen ansteckt. Zu Hause bedeutet aber auch, wenn es irgendwelche Familienfeiern gibt. Das ist auch ganz schwierig zu kontrollieren, weil weder die Polizei noch die Stadt Möglichkeiten haben oder vorhaben, wo zu Hause anzuklopfen und zu sagen „Wer ist jetzt alles da?“ Wir haben leider auch viele illegale Veranstaltungen oder illegale Partys. In Kellerräumlichkeiten, in Lokalen, wo wir ständige Kontrollen machen und wo sehr viele Hinweise aus der Bevölkerung kommen, wo Nachschau gehalten wird. Da gibt es illegale Spielklubs im Keller, wo auch nebenbei Prostitution ausgeübt wird, wo illegales Glücksspiel ausgeführt wird und, und, und. Wir haben da ein sehr großes Betätigungsfeld, gemeinsam mit der Wiener Polizei gegen diese schwarzen Schafe vorzugehen.

Frage: Die Contact Tracerinnen und Tracer führen viele Telefonate – was ist denn der Eindruck der Gesellschaft momentan?

Walter Hillerer: Ich bin kein Statistiker, aber was ich merke: Teile der Bevölkerung halten das alles für einen Unsinn, und glauben, sie sind sowieso unverwundbar. Die gibt es einfach, die wird man auch nicht erreichen. Ein Großteil der Bevölkerung ist sehr vernünftig. Es ist eine Belastung, das sehen viele. Sie haben im eigenen Bereich – Familie oder Freundeskreis, Bekanntenkreis, Arbeitskollegen – Erfahrungen gemacht, dass Leute erkrankt sind und auch Folgewirkungen haben nach der Erkrankung. Im Contact Traing müssen wir den Leuten natürlich das glauben, was sie uns erzählen. Ob immer alle die Wahrheit erzählen, das kann ich Ihnen nicht sagen.

Frage: Wie steht es um die Aufklärungsquote in Wien?

Walter Hillerer: Da bin ich sehr, sehr stolz. Bei der Absonderung sind wir zwischen 93 und 97 Prozent, bei der Clusteranalyse sind weit über 60 Prozent. Es freut mich, das sagen zu dürfen, in Wien sind wir die Ersten in ganz Österreich.

Frage: Kommt man beim Contact Tracing auf die 100 Prozent? Das müsste doch das Ziel sein.

Walter Hillerer: 100 Prozent wird es nie geben, weil manche einfach nicht mitmachen wollen. Die erreicht man einfach nicht, weil sie auch nicht wollen. Und ich würde nicht sagen, dass Contact Tracing das alleinige Heilmittel ist. Wir haben mehrere Schlüssel zum Erfolg: Der erste Schlüssel sind die Impfungen, der zweite Schlüssel sind die Testungen und der dritte Schlüssel ist das Contact Tracing. Mit diesen drei Dingen zusammen hoffe ich, dass wir das noch besser in den Griff bekommen.