Archivmeldung der Rathauskorrespondenz vom 27.11.2009:
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Zwei neue Sachbücher mit jeder Menge literarischer Österreich-Theorie

Wien (RK). Mit sonderlich vielen literaturhistorischen Grundsatztexten ist Österreich bzw. Wien ja bislang nicht gerade verwöhnt worden: Wendelin Schmidt-Denglers "Bruchlinien" (1995), Klaus Zeyringers "Österreichische Literatur seit 1945" (1999) wären da zu nennen, umso erfreulicher also, dass es in den letzten ...

Wien (RK). Mit sonderlich vielen literaturhistorischen Grundsatztexten ist Österreich bzw. Wien ja bislang nicht gerade verwöhnt worden: Wendelin Schmidt-Denglers "Bruchlinien" (1995), Klaus Zeyringers "Österreichische Literatur seit 1945" (1999) wären da zu nennen, umso erfreulicher also, dass es in den letzten Wochen zu zwei mit Spannung erwarteten Neuerscheinungen in diesem Dürregebiet gekommen ist. Gut 450 Seiten steuert Wolfgang Müller- Funk bei, um hundert Seiten weniger William Johnston, der Ende Oktober von Seiten Wiens mit dem Goldenen Ehrenzeichen geehrt worden war. Beide, Müller-Funk ebenso wie Johnston, sind keine Unbekannten auf dem Gebiet der Kulturwissenschaft. Johnstons erste große Meriten liegen schon etwas weiter zurück, 1972 war es, als der Böhlau Verlag in dankenswerter Weise dessen 1967 begonnene Studie "The Austrian mind" über die Geistesgeschichte Österreichs herausbrachte, und damit nicht nur "einigen wenigen", sondern mit Verzögerung, einem ganzen Land einen Zugang zu dem "unentdeckten Kontinent" (Friedrich Heer) des früheren geistigen Österreichs eröffnete. Müller-Funk, Jahrgang 1952 und Dozent am Institut für Germanistik, entstammt einer Generation, in der die "großen Würfe" allein schon deswegen schwieriger wurden, weil Kulturtheorie und Germanistik sich substantiell an Komplexität erweitert haben, nichtsdestoweniger ist seine essayistische Joseph Roth-Biographie (1989) oder seine Werke zur Kulturtheorie (2002 und 2006) in guter Erinnerung.

Zu den Büchern selbst: Beide, sowohl der "Österreichische Mensch" von Johnston, wie auch "Komplex Österreich" von Müller- Funk entwerfen für den Leser ein neu zusammen gesetztes Panoptikum Wiener und österreichischer Kultur- und Literaturgeschichte auf dem Feld des Essays. Gerade diese Form des Nachdenkens sei, so Johnston, trotz Kaffeehausliteratur in Österreich lange unterentwickelt gewesen. Als Grund führt Johnston die erst nach 1918 sehr langsam, europäisch sehr spät entwickelte Frage nach dem "Österreichischen" an. Gerade unter den Historikern der Ersten Republik traf genau diese Frage meist auf Ablehnung, war doch das Fach ebenso deutschnational ausgerichtet, wie ein Gutteil der Musikwissenschaften oder der damaligen Germanistik. Allein Schriftsteller, wie Joseph Roth und Robert Musil, begannen die Frage nach dem spezifisch Österreichischen zu stellen, meist mit dem Blick zurück. Das "österreichische Wesen", damals ein geflügeltes Wort, definierte selbiges dann auch fast ausschließlich kulturell. Der Begriff der "Identität", gar der "österreichischen Identität" sollte erst in den 1970er Jahren laut Johnston staatstragend werden. Bis dahin gewann die "Kulturidee" immer vor der "Staatsidee".

Johnston kommt am Schluss mit der Theorie des theresianischen Menschen von seiner Erkundungsfahrt durch Literatur- und Staatsarchive retour, Müller-Funk erweitert den potentiellen rot- weiß-roten Literatur-Auskunftskataster um wesentliche neuere Literatur, wie etwa Norbert Gstrein und Dimitré Dininev. Während der 73jährige Johnston - wohlgemerkt ohne Übersetzung - in deutscher Sprache über die Verbindung von Österreich-Begriff und Literatur zwischen 1910 und 1967 nachdenkt, - und damit auch seinen "The Austrian Mind" weit ins 20. Jahrhundert verlängert -, erweitert Müller-Funk mit seinen Essays den potentiellen Auskunftsraum zu Literatur, Österreich, Staat und Gesellschaft bis in die Gegenwart. Dass daraus auch literarisches Lesevergnügen wird, ist der präzisen, dennoch unterhaltenden Art Müller-Funks zu verdanken, der mit seiner Aufsatzsammlung aus den Jahren 1984 bis 2009 keine geschlossene Theorie abliefert, sondern aufzeigt, wohin man dafür lesend zu reisen hätte. Im übrigen nicht nur durch lichtes Gelände, sein Aufsatz über den Nazi-Denker und Wiener Paradegermanisten der Zwischenkriegszeit, Josef Nadler, lehrt da anderes.

Johnstons Ausbeute ist ein neuer Weg zurück ins vergangene Jahrhundert, der noch zu diskutieren sein wird, Müller-Funks "Pfunde" mit Dinev, Gstrein oder Ransmayr, aber auch Musil, Saar, Kafka und Schnitzler sind schlüssig argumentierte Empfehlungen für "gebrochene" Kanon-Zusammenstellungen. Ähnliche Komplimente darf man auch Johnston machen: Auch dieser hat seinen Elan, seine Begeisterung für sein Lebensthema den Geisteskontinent Österreich mit Hofmannsthal, Bahr, Kralik, Benda, Heer, Werfel, Torberg oder Eisenreich, nicht verloren. Nachdenken und Schreiben halten offensichtlich jung, beweglich und neugierig: Ein banale, angesichts der Unmengen an anderen meist in Form von Tuben und Tiegeln daherkommenden Antiaging-Varianten, dennoch erfreuliche Einsicht.

William M. Johnston, Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Böhlau Verlag (www.boehlau.at) Wien/Köln/Graz 2010, 394 Seiten, 35 Euro, ISBN 978-3-205-78298-8

Wolfgang Müller-Funk, Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur, Wien 2009, Sonderzahl Verlag (www.sonderzahl.at), 460 Seiten, 29 Euro, ISBN 978 3 85449 321 1. (Schluss) hch

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(RK vom 27.11.2009)