Archivmeldung der Rathauskorrespondenz vom 11.03.2002:
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Personennahverkehr zwischen Liberalisierung und Daseinsvorsorge

Wien (RK). Die Daseinsvorsorge bildet eine Säule des europäischen Gesellschaftsmodells und der europäischen Sozial-, Wirtschafts- und Territorialpolitik. Zu ihr gehören vor allem die Dienstleistungen, die der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse in all jenen Bereichen dienen, die zur Erhöhung der Lebensqualität und ...

Wien (RK). Die Daseinsvorsorge bildet eine Säule des europäischen Gesellschaftsmodells und der europäischen Sozial-, Wirtschafts- und Territorialpolitik. Zu ihr gehören vor allem die Dienstleistungen, die der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse in all jenen Bereichen dienen, die zur Erhöhung der Lebensqualität und zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Diese Dienstleistungen - insbesondere in Bereichen wie Transport, Umwelt, Energie, Wasser, Bildung, Kultur, Ernährungssicherheit, Wohnungswesen (diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit) - sind für das Gemeinwohl von eminenter Bedeutung. Vor allem ein gleichberechtigter Zugang zu leistbaren Preisen. Hier lassen die jüngsten Entscheidungen des Europäischen Parlaments (EP) ein Umdenken erkennen, so ist etwa eine große Mehrheit der Parlamentarier der Meinung, dass die Zuständigkeit für den Nahverkehr bei den lokalen Behörden und damit auf kommunaler Ebene (Länder bzw. Städte und Gemeinden) bleiben sollte.

Nach Ansicht des Verbandes der Öffentlichen Wirtschaft und Gemeinwirtschaft Österreichs (VÖWG) und der Bundesarbeitskammer (AK) wäre nach dem Einleiten derart bedeutender struktureller Veränderungen wesentlich wichtiger, eine Phase der empirischen Evaluierung in den bereits liberalisierten Wirtschaftsbereichen durchzuführen, statt weiterhin Sektor für Sektor einer Liberalisierung zu unterwerfen (und dabei oftmals EP versus Kommission registrieren zu müssen). Eine Tagung in Wien im vergangenen Dezember, die gemeinsam von AK und VÖWG getragen wurde, befasste sich ausführlich mit diesem Themenkomplex; die Materialiensammlung dazu liegt nun in einem ausführlichen Band, der von Doris Unfried (AK) und Christoph Parak (VÖWG) bearbeitet bzw. herausgegeben wurde, vor. Sehr deutliche Worte fand dazu auch Wiens Finanz- und Wirtschaftsstadtrat Vizebürgermeister Dr. Sepp Rieder.****

Liberalisierung bedeutet nicht automatisch höhere Qualität

Wiens Finanzchef führte im Rahmen seines Beitrags "Die Perspektiven der Kommunen" u.a. Folgendes aus: "So sehr die Vorteile eines uneingeschränkten europäischen Marktes auf der Hand liegen, so intensiv müssen bei allen Entscheidungen in diese Richtung auch die damit verbundenen Probleme mitbedacht werden. ich gehe noch einen Schritt weiter und fordere Ausnahmen von diesem Grundprinzip des uneingeschränkten Marktes, wenn negative Folgen einer Liberalisierung bzw. Privatisierung für die Menschen absehbar sind....Wird diese Politik in aller Konsequenz umgesetzt, würde eines der wesentlichsten Elemente der Kommunalpolitik, die freie Entscheidung, wie einzelne Leistungen erbracht werden, abhanden kommen. Derzeit entscheidet jeder Mitgliedsstaat selbst, ob kommunale Dienstleistungen eigenbetrieblich, von öffentlichen oder privaten Betrieben erbracht werden. Der Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs in Wien ist ein Beispiel für ein ausgezeichnet funktionierendes, integriertes System öffentlicher Verkehrsmittel. Dieses sehr umweltschonende System an U-Bahnen, Straßenbahnen und Autobussen ist auch einer der Gründe für die hohe Lebensqualität der Stadt.... Eine Liberalisierung bzw. Privatisierung würde vielleicht nicht sofort zu Qualitätsverlust führen, ein rein auf Gewinnmaximierung fixierter privater Konzern würde jedoch nicht so sehr auf kostenintensive Bereiche, wie Wartung oder Umwelt setzen, wir dies ein kommunaler Anbieter mit dem Blick auf die Gesamtsituation der Stadt macht.... Zuletzt ist zu bedenken, dass in einem rein privatwirtschaftlichen Markt der Zugang zu lebensnotwendigen Leistungen für sozial Schwache nicht automatisch gewährleistet ist....Gerade vor dem Hintergrund der Erweiterung der EU müssen wir trachten, vorhandene Stärken auszubauen und weiterzuentwickeln und nicht blind Modelle zu übernehmen, die langfristig unsere hohe kommunale Qualität untergraben".

Bei der Einschätzung der Auswirkungen auf die Wiener Linien verwies Direktor DI Günther Grois darauf, dass sich in Wien ein kontinuierliches Ansteigen der Fahrgastzahlen zeige und die Stadt mit einem Modal split von 33 Prozent Anteil an allen öffentlichen Wegen im europäischen Spitzenfeld liege. Es sei festzustellen, dass die hauptsächlichen Modelle der Liberalisierung die bisherigen direkten Beziehungen zwischen Fahrgast und Verkehrsunternehmen schwächten. Der Vertrag, den die Wiener Linien mit der Stadt Wien geschlossen haben, sehe das Verkehrsunternehmen als Generalunternehmen, eine solche Vertragsstruktur finde sich übrigens auch in Paris und anderen französischen Städten. Zudem unterscheide sich dieser gegenüber den in den skandinavischen Ländern oder in Großbritannien üblichen Vertragswerken durch größere Kundennähe. Interessantes fördert übrigens ein Preisvergleich bei den Fahrkarten zutage, den der Schweizer Bankverein (auf Basis SFr) erstellt hat: Dabei liegt Wien bei einem Dutzend untersuchter Städte an 9. Stelle, zum Teil weit vor uns Zürich, Oslo, Stockholm, Berlin, London. (Schluss) pz

(RK vom 11.03.2002)