Interview mit Bürgermeister Ludwig zum neuen Jahr 2020

Video: Bürgermeister Ludwig im Interview zum Jahr 2020

MEIN WIEN: Herr Bürgermeister, Sie haben den Jahreswechsel am Silvesterpfad verbracht. Sind Sie gut ins neue Jahr gerutscht?

Bürgermeister Michael Ludwig: Ja, ich war am Silvesterpfad unterwegs, gemeinsam mit rund 800.000 Menschen, mit Wienerinnen und Wienern - aber auch mit vielen Touristen, die aus den Bundesländern gekommen sind, aus anderen Städten, um gemeinsam mit uns den Jahreswechsel zu feiern. Es war viel los in der Wiener Innenstadt, aber auch im Prater, in der Seestadt Aspern, in vielen anderen Teilen unserer Stadt. Was für mich erfreulich war: Es war ein sehr schönes Fest des Miteinanders und es war ein sicheres Fest. Und ich bin der Wiener Polizei, den Helfern Wiens und allen Einsatzkräften sehr dankbar, dass sie rund um die Uhr im Einsatz waren, um alle vorbereitenden Tätigkeiten zu treffen, aber auch um die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass wir hier sehr sicher feiern konnten. Ich habe auch die Sicherheitszentrale besucht am Silvesterpfad und konnte mich überzeugen, dass wir als Stadt Wien wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen, gemeinsam mit den Blaulicht-Organisationen, dass wir für die Wiener Bevölkerung ein höchstes Maß an Sicherheit gewährleisten - auch am Silvesterpfad.

Erwartungen an die neue Bundesregierung

MEIN WIEN: Was erwartet sich die Stadt Wien von der Zusammenarbeit mit der neuen türkis-grünen Bundesregierung?

Ludwig: Als Wiener Bürgermeister erwarte ich mir vor allem eine Gesprächskultur auf Augenhöhe. Dass man gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft meistert, und dass die jetzige Bundesregierung - im Unterschied zur vorletzten Bundesregierung - hier ein gutes Verhältnis zum Parlament, aber auch zu den Bundesländern, zu den Städten und Gemeinden findet. Denn es wird ganz wichtig sein, bei Zukunftsthemen wie Pensionen oder Pflege, Arbeitsmarkt und Wirtschaftsentwicklung gemeinsam vorzugehen. Hier gibt es gemeinsame Interessen, und ich strecke hier immer die Hand aus. Ich bin, wie ich glaube, als sehr konzilianter Politiker bekannt. Mir ist es lieber, dass wir gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft lösen als im Streit. Von daher bin ich sehr optimistisch, dass es gelingen wird, eine gute Gesprächskultur zu entwickeln.

MEIN WIEN: Sie haben für die Stadt Wien diese Ziele definiert: Eine moderne, digitale Stadt; auch eine Stadt des sozialen Zusammenhalts, in der niemand zurückgelassen wird. Wie sehen Sie diese Ziele und Positionen Wiens im Einklang mit den Plänen der neuen Bundesregierung?

Bürgermeister Michael Ludwig im Gespräch

Bürgermeister Michael Ludwig

Ludwig: Es gibt Themen, wo ich sehr viel Einklang sehe. Es gibt allerdings auch Themen, die mir in der jetzigen Regierungserklärung zu wenig beleuchtet sind. Das sind alle Fragen des Arbeitsmarktes, der Sozialpolitik, aber auch des leistbaren Wohnens. Das sind Themen, die mir in einer Großstadt wie Wien besonders wichtig sind, und von denen ich auch annehme, dass sie für die Wiener Bevölkerung von großem Interesse sind. Hier habe ich in der Regierungserklärung und im Regierungsprogramm wenig lesen können. Da gibt es auch konkrete Forderungen - nicht nur der Stadt Wien, sondern auch der Landeshauptleute und des Österreichischen Städtebundes. Von daher werden wir uns auch zu diesen Themen melden, denn das sind ganz wichtige Zukunftsfragen.

Gleiche Chancen

MEIN WIEN: Es gab mediale Kritik am Bundesregierungsprogramm hinsichtlich Frauen- und Sozialpolitik. Wie ist da Wiens Position?

Ludwig: Mir ist wichtig, dass Frauen und Männer die gleichen Chancen vorfinden. Wir wissen, das ist noch nicht in allen Lebensbereichen so, insbesondere auch in wirtschaftlichen Fragen, bei der Bezahlung. Aber es ist bedeutsam, dass die Rahmenbedingungen gelegt werden, dass Männer und Frauen am Arbeitsmarkt dieselben Möglichkeiten und Chancen vorfinden. Das ist auch der Grund, dass wir uns in Wien entschlossen haben, beispielsweise den kostenfreien Kindergarten zu ermöglichen, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu gewährleisten. Das gilt für Frauen, aber natürlich auch für Männer, und ist ein ganz wichtiger Punkt, der die Gleichstellung überhaupt erst ermöglicht. Mir ist auch wichtig, dass wir ganz deutliche Schritte setzen gegen die Gewalt an Frauen. Leider immer noch ein großes Thema. Ich habe, noch als Wohnbaustadtrat, das 5. Frauenhaus auf den Weg gebracht. Wir haben auch einen 24-Stunden-Notruf für Frauen, und ein Frauenservice, das die zuständige Stadträtin Kathrin Gaál auch mit großer Verve vorantreibt. Weil gerade Frauen, die in einer schwierigen sozialen oder privaten Situation sind, benötigen unsere Unterstützung. Hier sind wir bundesländerübergreifend gerne bereit, uns einzusetzen, um die Lebensbedingungen für Frauen und für Kinder zu verbessern. Von daher werde ich natürlich besonders darauf achten, dass wir auch in Übereinstimmung mit Maßnahmen der Bundesregierung weitere Schritte setzen, um Frauen auch in Zukunft gleichzustellen und ihnen dieselben Möglichkeiten zu bieten wie Männern.

Kampf gegen den Klimawandel

MEIN WIEN: Die neue Bundesregierung will den Klimawandel bekämpfen. Welche Maßnahmen setzt Wien in Fragen des Klimaschutzes?

Ludwig: Ich freue mich, dass Klima- und Umweltschutz jetzt so bedeutsame Themen geworden sind in der Politik - in Österreich, aber auch international. Das ist für Wien aber nichts Neues. Ich möchte daran erinnern, dass Michael Häupl, schon bevor er Bürgermeister geworden ist, noch in seiner Funktion als Stadtrat die "Umwelt Musterstadt Wien" ausgerufen hat, und damals ganz wichtige Schritte gesetzt hat: in der Abfallentsorgung, in der Abwasserentsorgung beispielsweise. Themen, die international bis heute große Anerkennung gefunden haben, auch im Vergleich mit anderen Städten. Und wir haben seit dem Jahr 1990 bis heute fast 40 Prozent der CO2-Emissionen in Wien einsparen können. Wir liegen hier im Vergleich mit anderen Städten ganz vorne an der Spitze. Wir haben seit genau 20 Jahren, seit 1999, ein Klimaschutzprogramm der Stadt Wien, an dem wir sehr intensiv arbeiten, und alle Lebensbereiche abtasten, wo es möglich ist, klimaschutzrelevante Maßnahmen zu setzen. Das gilt für den Neubau und die Sanierung - wir wissen, dass dort bis zu 40 Prozent des gesamten Energieaufwandes stattfinden - also in der Errichtung von Gebäuden und im Heizen. Wir haben seit 15 Jahren den Niedrigenergiehaus-Standard verpflichtend im geförderten Wohnbau. Ich habe noch die größte Passivhaus-Siedlung Europas eröffnet, wo man fast überhaupt keine Energie mehr benötigt zum Heizen.
Und wir haben zum Zweiten auch den öffentlichen Verkehr ganz stark ausgebaut. Wir zählen zu jenen Städten weltweit mit dem dichtesten Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln, das wir schrittweise auch ausbauen. Das gilt für die Straßenbahn, für die U-Bahn. Und vor kurzem habe ich ein neues Paket präsentiert, ein Schienen-Infrastrukturpaket, das die Weiterführung des Ausbaus der Schnellbahn gewährleistet, und mit dem Lückenschluss der Verbindungsbahn eine 2. Trasse durch Wien für die Schnellbahn ermöglichen wird. Das heißt, wir sind, was den Ausbau des öffentlichen Verkehrs betrifft - in Kombination mit dem 365-Euro-Jahresticket - sehr gut unterwegs. Und wir versuchen so, in allen Lebensbereichen CO2-Emissionen zu reduzieren, Energie einzusparen, und gleichzeitig zu gewährleisten, dass sich die Klimaveränderung auf die Menschen möglichst wenig niederschlägt. Deshalb haben wir erst vor kurzem in der Stadtregierung beschlossen, dass wir beispielsweise die Förderung für schattenspendende Maßnahmen in Wohnbauten erhöhen werden, und die Voraussetzungen schaffen werden, dass es auch in einem heißen Sommer möglich sein wird, durch Abschattung eine Kühle herbeizuführen. Von daher denke ich, dass wir gut unterwegs sind. Es ist ein ernstes Thema, aber es ist auch kein Grund, hier alarmierend vorzugehen. Man muss nur sehr konsequent, auch an unserem Klimaschutzprogramm in Wien, arbeiten. Auch hier sind wir, wie ich meine, international durchaus in einer Vorbildfunktion.

Wirtschaft, Arbeit, Bildung

MEIN WIEN: Jüngste Meldungen sagen, Wien hat ein Jahr früher als geplant das Nulldefizit erreicht, also keine neuen Schulden gemacht. Gleichzeitig hat die Statistikabteilung der Stadt Wien prognostiziert, dass wir noch in diesem Jahrzehnt die 2-Millionen-EinwohnerInnen-Grenze knacken werden. Wie können Sie garantieren, dass die Stadtverwaltung mit ihren Leistungen und Services weiter ein hohes Qualitätsangebot liefern kann?

Ludwig: Richtig ist, Wien ist der Wirtschaftsmotor, nicht nur in der Ostregion, sondern im gesamten Land. Wir erwirtschaften rund 94 Milliarden Euro an Bruttoregionalprodukt. Das ist in etwa so viel, wie Slowenien und Kroatien zusammengerechnet, und ist natürlich mehr als jedes andere Bundesland. Es gelingt uns nicht nur, die regionale Wirtschaft zu unterstützen – das sind große Betriebe, vor allem aber die kleinen und mittelständischen Unternehmen - es sind gerade in den letzten Monaten sehr viele internationale Unternehmen nach Wien gekommen. Es haben sich mehr internationale Betriebe in Wien angesiedelt als in allen anderen 8 Bundesländern zusammen. Von daher denke ich, haben wir sehr viel getan für den Wirtschaftsstandort Wien, aber damit auch verbunden für den Arbeitsmarkt. Diese Dinge hängen eng miteinander zusammen: Die wirtschaftliche Prosperität, die Situation am Arbeitsmarkt, wo wir die Arbeitslosigkeit reduzieren konnten, und gleichzeitig auch die Frage, wie wir gewährleisten können, dass es auch in Zukunft qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben kann, die in allen Branchen tätig sind.
Von daher hängen Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Bildungssystem ganz eng zusammen. Wir haben in Wien ein sehr gutes Bildungssystem. Das beginnt beim kostenfreien Kindergarten, geht über die Pflichtschule – wo wir alleine im jetzt laufenden Schuljahr mehr als 100 neue Schulklassen geschaffen haben. Hier wünschen wir uns von der Bundesregierung nach 3 Jahrzehnten wieder einmal eine HTL oder eine Handelsakademie am Standort Wien. Hier ist der Bund, wie ich meine, in einer sehr stark wachsenden Stadt wie Wien säumig. Und wir sind, was die wenigsten wissen, der wichtigste Universitätsstandort im deutschsprachigen Raum. Wir haben fast 200.000 Studierende an den 9 Universitäten, 5 Privatuniversitäten, 5 Fachhochschulen. Das heißt, wir haben sehr gute Voraussetzungen, dass wir auch die Herausforderungen der Wirtschaft sehr gut meistern. Und die werden auch in ganz engem Zusammenhang mit der Digitalisierung stehen. Das heißt, wie es uns gelingt, die Veränderung in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt zu begleiten, auch mit dem Bildungssystem, und gleichzeitig auch darauf zu achten, dass wir keine Gesellschaft der 2 Geschwindigkeiten werden, wo Menschen zurückbleiben, nicht teilhaben können an dieser technischen Entwicklung - von daher ist das, was wir den "Digitalen Humanismus" nennen, ganz wichtig. Dass wir auch die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung im Auge behalten und hier auch gesellschaftspolitische Schritte setzen.

MEIN WIEN: In Wien sinkt die Zahl der Arbeitslosen, es gibt aber im Segment der älteren Arbeitssuchenden durchaus Herausforderungen. Wie begegnet die Stadt dieser Situation am Arbeitsmarkt?

Ludwig: Zum einen arbeiten wir sehr eng zusammen mit allen Teilen der Wirtschaft. Ich habe ein besonders enges Verhältnis zum Präsidenten der Wirtschaftskammer Wien, Walter Ruck, der eng mit der Stadt zusammenarbeitet. Das gilt aber für alle Sozialpartner, wie die Arbeiterkammer, beispielsweise, die Gewerkschaften, die Landwirtschaftskammer, die Industriellenvereinigung Wien. Und gemeinsam versuchen wir, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Ich denke, dass wir hier ein sehr vorbildliches System geschaffen haben, um insbesondere mit diesen Veränderungen in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt umzugehen. Voraussetzung ist, dass wir auch die Wirtschaftskraft haben, dass wir als Stadt Wien etwas beitragen können, um die Wirtschaft zu stimulieren. Ich bin stolz, dass es uns in Wien gelungen ist, ein ausgeglichenes Budget vorzustellen. Dass wir keine neuen Schulden machen, sondern ganz im Gegenteil, Schulden zurückzahlen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich die Situation anderer Städte ansieht. Hier sind wir, glaube ich, beispielgebend vorangegangen. Und wir werden ganz gezielt investieren in die Infrastruktur, um die Wirtschaft zu beleben. Das hat Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Ich bin froh, dass es gelungen ist, die Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren, insbesondere bei den jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dort, wo wir in der Tat große Herausforderungen haben, da haben Sie völlig recht, ist bei den Beschäftigten, die 50 Jahre und älter sind. Ich persönlich halte es für sehr ungerecht, denn das sind Menschen, die oft besonders engagiert sind. Ich habe aus diesem Grund heraus eine Aktion gestartet, um besonders motivierende Maßnahmen zu setzen, um Beschäftigte, die 50 Jahre und älter sind, wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Wir haben eine Messe in Wien organisiert, mit 70 Unternehmen aus dem Bereich der Privatwirtschaft, der Stadt Wien, aus verschiedenen anderen Gebietskörperschaften. Es sind 2.500 Menschen gekommen, und es war für mich berührend zu erleben, wie ich durchgegangen bin durch die Messe und mich Menschen angesprochen haben und gesagt haben: "Ich bin so glücklich, dass es diese Messe gibt, denn ich will nur eines: nämlich arbeiten." Das ist rührend, wenn man merkt, dass Menschen - die oft jahrelang, jahrzehntelang - in Arbeit gestanden sind, ihr Bestes gegeben haben, dann aus welchen Gründen auch immer - weil das Unternehmen die Tätigkeit beendet hat oder weil sie den Anforderungen nicht mehr gerecht geworden sind, dann zu Hause sitzen und das Gefühl haben, dass sie nicht mehr gebraucht werden. Von daher habe ich noch einmal das Budget aufgestockt für diese Aktion. Ich bin überzeugt, dass es uns gemeinsam gelingen wird, den Sozialpartnern und der Stadt Wien, auch für dieses Segment am Arbeitsmarkt zusätzliche Impulse zu setzen. Ich bin stolz, dass hier das Miteinander gut funktioniert, und dass wir auch die Menschen, die es besonders benötigen, und die besonders tatendurstig sind, die auch arbeiten wollen, auch die Möglichkeit zu bieten, ihre Leistung einzubringen.

Wien und Europa

MEIN WIEN: 2020 ist ein Jubiläumsjahr, für Österreich und für Wien: 25 Jahre Mitgliedschaft bei der Europäischen Union. Was schätzen Sie persönlich an der EU, und was wünschen Sie sich für dieses Bündnis, auch für das Europa der Städte?

Ludwig: Das Wichtigste ist, dass die EU Mitgarant dafür war, dass wir auf unserem Kontinent seit Jahrzehnten Frieden haben. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Unsere Generation empfindet das vielleicht nicht mehr als eine so große Herausforderung, aber unsere Eltern- und Großelterngeneration hat selbst Kriege miterlebt. Die Großeltern sogar 2 Weltkriege und eine große Wirtschaftskrise. Und dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommen hat, halte ich für sehr gerecht und richtig. Denn gerade auf einem von Kriegen und Konflikten zerfressenen Kontinent über einen so langen Zeitraum Frieden zu sichern, ist etwas ganz Wichtiges. Nicht weit von der österreichischen Grenze, am Balkan, hat es in den 1990er-Jahren furchtbare Kriege gegeben mit tausenden Toten. Wir haben miterleben müssen, welche Auswirkungen das für die Menschen dort hat. Welche furchtbaren humanistischen Verwerfungen, aber auch wirtschaftlich desaströse Entwicklungen vonstattengegangen sind. Von daher ist ganz wichtig, dass die EU einen friedenssichernden Aspekt hat. Und sie hat, wie ich meine, auch eine wirtschaftlich positive Entwicklung für die europäischen Staaten mit sich gebracht. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Anteil an der gesamten Weltwirtschaft - wenn man Europa mit China oder den USA vergleicht, mit aufstrebenden Ländern wie Indien oder Brasilien, viele sogenannte Schwellenländer, dass dieser Anteil rückläufig ist. Das heißt, wir werden im internationalen Wettbewerb nur bestehen können, wenn wir gemeinsam auftreten, wenn Europa gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik macht, eine gemeinsame Energiepolitik betreibt, die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund rückt und nicht das Trennende. Von daher sehe ich viele Dinge an der EU, die kritisiert werden dürfen, denn ich meine, es muss eine noch bessere Europäische Union geben, aber es gibt für mich keine Alternative. Und umso schmerzhafter war es für mich auch, dass der "Brexit" das erste Mal ein Land nicht in die EU, sondern aus der EU gebracht hat. Ich halte das für keine gute Entwicklung, weder für Großbritannien noch für die EU. Von daher ist der Einigungsprozess etwas ganz Wichtiges.
Die Städte werden da eine ganz besondere und zentrale Rolle spielen. Das ist ein neues Thema, es spielen die Nationalstaaten eine große Rolle, natürlich auch das Europäische Parlament, auch die Regionen. Aber die Städte sind eigentlich wenig gehört worden im beginnenden Einigungsprozess der EU. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit dem damaligen Bürgermeister Michael Häupl in Brüssel war, um eine urbane Agenda vorzuschlagen. Wir haben mit dem Österreichischen EU-Kommissar Gio Hahn, der ja auch bei uns im Gemeinderat tätig war, einen guten Bündnispartner gefunden, auch die Städte stärker zu verankern in der Europäischen Union. Ich freue mich sehr, dass die EU-Kommission jetzt auch insgesamt die Städte als einen Partner anerkannt hat und merkt, dass immer mehr Menschen in den Städten leben, dass aber gleichzeitig auch die politische, die wirtschaftliche Bedeutung in den Städten steigt. Von daher werde ich auch als Wiener Bürgermeister darauf drängen, dass gerade jetzt in diesem sogenannten "Goldenen Jahr" eine Möglichkeit bestehen wird, die Interessen der Städte insgesamt - und natürlich ganz besonders die Rolle Wiens - in den Vordergrund zu rücken und zu zeigen, dass wir durchaus Interesse haben, mitzuwirken an der Zukunft dieses gemeinsamen Europas.

MEIN WIEN: Mit dem Brexit verlässt London die EU, somit ist Wien dann im Zirkel der 5 größten Städte der Europäischen Union, gemeinsam mit Rom, Paris, Berlin und Madrid. Welches Gewicht gibt das?

Ludwig: Wien war ja schon einmal beim Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert die drittgrößte Stadt in Europa, damals sogar die viertgrößte weltweit. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, wo es Metropolen gibt mit 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern und mehr. Aber es gibt da eine große Tradition, dass wir in Zentraleuropa eine große Rolle spielen. Wenn ich im Ausland unterwegs bin und auf die Frage, woher ich komme, antworte: aus Wien, dann merke ich, dass immer die Augen zu glänzen beginnen. Wien hat einen ungeheuer positiven Ruf, ich meine auch zu Recht. Von daher ist es gut, dass wir uns positionieren als eine Stadt, die wirtschaftlich, gesellschaftspolitisch sehr viel einzubringen hat, auf die wir stolz sind, mit einer hohen Lebensqualität. Aber wir wollen auch mitreden in der Europäischen Union und wir haben auch unsere Vorstellungen. Das ist auch der Grund, dass wir eine sehr offensive Stadtaußenpolitik betreiben - nicht, um die nationale Außenpolitik zu konterkarieren, sondern sie zu ergänzen. Denn wir merken oft, wenn es auf nationaler Ebene schwierige Gesprächssituationen gibt, dass es möglich ist, auf kommunaler Ebene die Gesprächskultur wieder zu intensivieren. Von daher haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht, auch in einem Städtenetzwerk in Europa, um die Interessen Wiens und die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen in unserer Stadt zu vertreten und damit den Arbeitsmarkt zu stimulieren.

Angebote und Leistungen der Stadt

MEIN WIEN: Die Wienerinnen und Wiener leben gerne in ihrer Stadt, sie "raunzen" aber auch gerne.

Ludwig: Ich meine, dass es möglich ist, zu raunzen und zu kritisieren, das ist ja auch ein Qualitätsbeweis. Was meine ich damit? Wir haben in Wien ein sehr ausgeprägtes Netz der sogenannten Daseinsvorsorge. Viele kommunale Leistungen werden auch von der Stadt selbst erbracht. Das ist in anderen Städten oft nicht so, wo viele dieser Leistungen privatisiert worden sind und wo es auch keine Möglichkeit gibt, sich als Bürgerin oder Bürger irgendwo zu beschweren, weil das nach eigenen Vorstellungen eines Unternehmens erledigt wird. Bei uns kann man die Stadt durchaus wegen vielen Dingen kritisieren, aber nur deshalb, weil die Stadt auch viele dieser Leistungen erbringt. Jetzt kann man sagen: Muss so vieles in kommunalem Eigentum sein? Ich behaupte, ja. Denn es wird seinen Grund haben, dass in den letzten Jahren in 20 verschiedenen Ländern der Europäischen Union insgesamt 700 Rekommunalisierungen stattgefunden haben. Das heißt, wo Betriebe, die einmal privatisiert worden sind - aufgrund mangelnder Leistung oder zu hoher Konditionen und Preise - wieder in das Eigentum der Städte zurückgenommen worden sind, oft mit großem finanziellen Aufwand. Das betrifft den öffentlichen Verkehr, die Energieversorgung, die Abfallentsorgung und vieles andere mehr. Das haben wir in Wien nie gemacht. Wir haben auch unseren kommunalen Wohnungsbestand nie verkauft. Und dass heute in etwa 2 Drittel der gesamten Wiener Bevölkerung in einer geförderten Wohnung leben, entweder in einer der 220.000 Gemeindewohnungen oder in einer der 200.000 geförderten Miet- oder Genossenschaftswohnungen, ist ein besonderes Asset, ein besonderer Vorteil unserer Stadt. Und wenn man davon spricht, dass die Wohnpreise bei uns stark steigen, dann gilt das nicht für diesen Bereich. Da sind in den letzten 10 Jahren die Mietpreise ziemlich entlang der Inflationsrate gestiegen. Sondern, das gilt für den privaten Wohnhausbereich, und dort bei den Neuvermietungen. Das ist in anderen Städten anders: Da wird der gesamte Wohnungsmarkt von einer ganz starken Preissteigerung konfrontiert. Von daher denke ich, sind wir einen richtigen Weg gegangen in den letzten Jahren. Ich bin überzeugt, dass es auch für die Zukunft wichtig ist, darzustellen, was der Unterschied ist - welchen Weg andere Städte gegangen sind und welchen Weg wir in Wien gegangen sind, und dass wir den auch in Zukunft fortsetzen und weiter ausbauen wollen. Ich bin überzeugt, dass wenn die Wienerinnen und Wiener die Vor- und Nachteile abwägen, dass sie sich mit Sicherheit dann auch für diesen Weg entscheiden.

MEIN WIEN: Wien setzt auf den sozialen Zusammenhalt und das respektvolle Miteinander. Wie kann das im Alltag funktionieren, wenn sich verschiedene Lebensentwürfe oder Lebensvorstellungen treffen?

Ludwig: Die Stadt lebt ja von der Vielfalt und von der Unterschiedlichkeit. Das ist ja die Besonderheit einer Stadt. Warum ziehen beispielsweise Menschen aus anderen Bundesländern zu uns nach Wien, der einzigen wirklichen Großstadt in Österreich? Das hat ja seinen Grund. Weil sie hier ihre Lebensperspektiven entwickeln wollen, entweder am Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem. Oder weil sie autonom leben wollen, ohne starke soziale Kontrolle. Das heißt, in der Stadt haben wir eine besondere Form des sozialen Miteinanders, eine geringere soziale Kontrolle, sicher mehr Freiheit. "Stadtluft macht frei" beispielsweise, ein Satz, der schon aus dem Mittelalter stammt. Das hat schon seine Bedeutung, in einer Großstadt wie Wien im Besonderen. Wir leben in einer Gesellschaft, die wahrscheinlich noch nie so frei war wie heute, wenn man sich die gesamte Geschichte ansieht. Deshalb bin ich der Meinung, diese Freiheit muss begleitet werden, auch mit Spielregeln, die man in einer Gesellschaft entwirft und an die sich alle zu halten haben. Das heißt, die sogenannten "ungeschriebenen Gesetze", die es früher gegeben hat, dass die manchmal vielleicht formuliert werden müssen und da und dort, wenn es notwendig ist, auch darauf gedrängt wird, dass sie eingehalten werden. Das Miteinander wird nur dann gut funktionieren, wenn diese Spielregeln von allen akzeptiert werden können und auch akzeptiert werden. Von daher muss man manchmal eingreifen, auch als Stadt, um deutlich zu machen, dass manche Vorgangsweisen nicht akzeptiert werden. Wir versuchen das mit viel Beratung und Information. Aber da und dort muss man wahrscheinlich auch mit Sanktionen eingreifen, um dieses gute Miteinander zu gewährleisten.
Wir sind eine der sichersten Städte weltweit, wir gehören zu den 6 sichersten Städten weltweit. Das ist ein großer Vorteil, den wir in unserer Stadt haben, keine Selbstverständlichkeit in einer Millionenstadt. Aber daran muss man arbeiten, dass es auch so bleibt. Und dass nicht nur die Kriminalitätsstatistik eine positive bleibt, sondern dass auch das sogenannte subjektive Sicherheitsgefühl weiter positiv bleibt. Das hängt oft damit zusammen, wie dieses Miteinander organisiert wird. Darum ist mir - wie gesagt - ganz wichtig, dass diese Spielregeln, diese Hausordnung nicht nur für die Wohnung, für das eigene Wohnhaus, sondern für die ganze Stadt gelten. Da muss man manchmal die ungeschriebenen Gesetze vielleicht etwas neu aufschreiben, neu definieren, um allen wieder ein wenig ins Bewusstsein zu rücken, dass das Miteinander dann gut funktioniert, wenn man anderen Menschen mit Respekt begegnet.

Wien-Wahlen

MEIN WIEN: In diesem Jahr wählen die Wienerinnen und Wiener ein neues Stadtparlament und damit indirekt auch den Bürgermeister. Was erwarteten Sie sich von diesem Wahljahr in Wien?

Ludwig: Ich erwarte mir vor allem einen respektvollen Umgang auch in der Politik. Die letzten Wahlkämpfe haben gezeigt, dass das nicht immer der Fall ist. Ich bin sehr für einen Wettbewerb der besten Ideen. Die Menschen sollen die Gelegenheit haben, auszuwählen, welche Zukunftsperspektiven sie sich vorstellen können, welche Personen hier auch im Vordergrund stehen sollen. Es ist ein großes Privileg, dass wir in einer Demokratie wählen können und dass wir die Möglichkeit haben, aus mehreren Angeboten auszusuchen und Entscheidungen mitzutreffen. Von daher bin ich sehr dafür, dass wir einen vielleicht durchaus starken Wettbewerb forcieren, aber einen, der sich an den Ideen orientiert und nicht untergriffig versucht, andere Personen zu diskreditieren. Ich glaube, dass das die Wienerinnen und Wiener nicht wollen, sondern sie wollen aussuchen können, wie sich die Stadt in Zukunft entwickelt. Von daher werde ich sehr stark darauf drängen, auch im Gespräch mit den Vertreterinnen und Vertretern der anderen politischen Parteien, dass es hier einen Wettbewerb der Ideen gibt und keine politischen Untergriffe.

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