Europaerklärung 2009

Mitteilung des Landeshauptmannes an den Wiener Landtag vom 26. November 2009

  1. Einleitung
  2. Europa sichtbarer machen
  3. Mehr Demokratie
  4. Regionale und lokale Gebietskörperschaften
  5. Subsidiarität
  6. Soziales Europa
  7. Grundrechte
  8. Daseinsvorsorge

Sehr geehrte Damen und Herren!

1. Einleitung

Anlässlich des in Kürze bevorstehenden Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon, ist es mir persönlich ein Anliegen, die Bedeutung dieses Reformwerks für die Städte und Gemeinden hervorzuheben. Denn erstmals in der mehr als 50-jährigen Geschichte der europäischen Vereinigung wird die wichtige Rolle der Kommunen im EU-Vertrag, im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und in den Zusatzprotokollen anerkannt.

Wenn man bedenkt, dass Schätzungen zufolge bis zu 80 Prozent der kommunalrelevanten Vorschriften ihren Ursprung in der EU haben, so kann man sich vorstellen, dass diese primärrechtliche Anerkennung einen Meilenstein für die Regional- und Kommunalverwaltungen darstellt.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Sie haben die Entwicklungen rund um den Reformvertrag in den letzten beiden Jahren bei Veranstaltungen und Diskussionen, in Ihrem aktiven politischen Leben und in den Medien verfolgen können. Die Hürden der Ratifikation sind nunmehr überwunden, die Urkunden in Rom hinterlegt, der Reformvertrag kann mit 1. Dezember 2009 in Kraft treten.

Lassen Sie mich nun den Bogen etwas weiter spannen und die Auswirkungen dieses Vertrages von Lissabon in einem umfassenden Kontext sehen. Globalisierung, Finanz- und Wirtschaftskrise, Menschenrechte, Energie- und Umweltprobleme - das sind nicht nur Schlagwörter im wahrsten Sinne des Wortes; diese Bereiche sind die großen Herausforderungen der nächsten Jahre, der sich alle Nationen, Länder und Kommunen zu stellen haben. Es wäre naiv, zu glauben, dass diese komplexen Aufgabenstellungen auf nationaler Ebene alleine gelöst werden könnten.

Sehr geehrte Damen und Herren!

2. Europa sichtbarer machen

Wir brauchen ein starkes Europa, eine zukunftsorientierte, vorausschauende, soziale und verantwortungsvolle Politik, die gegenüber den übrigen Welt- und Wirtschaftsmächten wirksam vertreten wird. Deshalb: Europa muss insbesondere in Anbetracht der gegenwärtigen Situation seine Handlungsfähigkeit stärken und soll - was mir besonders wichtig erscheint - mit einer Stimme sprechen: Klar, deutlich und direkt. Künftig wird daher der Hohe Vertreter - gewissermaßen ein "EU-Außenminister" - die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union weltweit vertreten. Seit letzter Woche wissen wir, dass eine Frau - die britische Handelskommissarin Catherine Ashton - diese wichtige Aufgabe übernehmen wird. Endlich gibt das Vertragswerk eine Antwort auf die Frage des ehemaligen US-amerikanischen Außenministers Henry Kissinger, welche Telefonnummer man wählen soll, wenn man Europa anruft. Dagegen wird im Inneren der EU der Präsident des Europäischen Rats dafür Sorge tragen, die europäische Politik der Regierungen effektiver zu koordinieren. Bei der Besetzung dieses Amtes haben sich die Staats- und Regierungschefs nach wochenlangem Tauziehen für den belgischen Premier Herman van Rompuy entschieden. Auch die Ausdehnung der Mehrheitsbeschlüsse im Ministerrat tragen zu einer Erhöhung der Handlungsfähigkeit bei.

3. Mehr Demokratie

Institutionelle Verbesserungen betreffen aber auch das Europäische Parlament. Es erhält in beinahe allen Bereichen der gemeinschaftlichen Gesetzgebung ein Mitentscheidungsrecht. Dadurch wird dem seit Jahren bemängelten Demokratiedefizit der EU Rechnung getragen. Aus österreichischer Sicht ist es außerdem zu begrüßen, dass die Vertretung europäischer Interessen durch national gewählte Mandatare gestärkt wird: Österreich wird in Zukunft 19 (statt bisher 18) Abgeordnete stellen. Der Vertrag bringt nicht nur mehr Demokratie durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, sondern auch durch die Einbeziehung der nationalen Parlamente in den europäischen Entscheidungsprozess. Dazu sieht der Vertrag erstmals die Möglichkeit europäischer Bürgerinitiativen vor.

4. Regionale und lokale Gebietskörperschaften

Neben all diesen Punkten stärkt der Vertrag von Lissabon insbesondere auch die Rolle der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften. Aus kommunalwirtschaftlicher Sicht sind vor allem nachfolgende Bestimmungen zu erwähnen:

  • Erstmalige und ausdrückliche Anerkennung der lokalen und regionalen Selbstverwaltung, im A.C. der EU
  • Stärkere Berücksichtigung der finanziellen Auswirkungen, die die neuen Legislativvorschläge für lokale und regionale Gebietskörperschaften nach sich ziehen.
  • Klagerecht des Ausschusses der Regionen bei Verstoß gegen die Subsidiarität beim Europäischen Gerichtshof
  • Mitwirkungsrecht (Anhörung) der repräsentativen Verbände und der Zivilgesellschaft bei allen Aktivitäten der Europäischen Union
  • Anerkennung des Prinzips der territorialen Kohäsion als eine der Zielsetzungen der Union.
  • Einbeziehung der Kommunen in die Subsidiaritätsprüfung und Stärkung des Subsidiaritätsprinzips.

5. Subsidiarität

Die Europäische Union darf nicht wahllos Gesetze erlassen, sondern sie muss die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachten. Der Vertrag von Lissabon setzt nun eine jahrelange Forderung der Kommunen um: Die EU darf nach dem neuen EU-Vertrag nur dann tätig werden, wenn das zu erreichende Ziel nicht besser auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene erreicht werden kann. Diese Einbeziehung der Regionen und Kommunen stellt einen weiteren Schritt in der Anerkennung der Länder und Gemeinden auf europäischer Ebene dar. Wie sieht die Umsetzung dieser Regelung nun in der Praxis aus? Die nationalen Parlamente erhalten zwei Möglichkeiten, bei Verletzung der Subsidiarität vorzugehen:

  1. In Form einer Subsidiaritätsrüge (an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission) können sie in einem laufenden Rechtsetzungsverfahren Stellung nehmen. Und sie erhalten
  2. ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof auf Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (Subsidiaritätsklage).

Die Aufgabe des Bundes, der Länder und Gemeinden wird es nun sein, entsprechende Strukturen zu schaffen, um diese Bestimmung nicht im Bereich der Theorie zu belassen, sondern mit Leben zu erfüllen.

Sehr geehrte Damen und Herren!

6. Soziales Europa

Besonders im Zusammenhang mit den Wahlen zum Europäischen Parlament wurde vielfach kritisiert, Europa habe das Herz nicht bei den Menschen. Es war daher höchst an der Zeit, auch vermehrt soziale Werte in das Europäische Vertragswerk aufzunehmen. Es ist deshalb zu begrüßen, dass innerhalb der EU ein Umdenkprozess stattgefunden hat. Freier Wettbewerb ist kein Ziel mehr an sich, sondern das, was er immer schon sein sollte: ein Mittel zum Zwecke der Steigerung des Wohlstands der EU-Bürger. Die Verwirklichung eines Binnenmarktes ist zwar nach wie vor ein Eckpfeiler europäischer Politik, aber - und das ist die bemerkenswerte Neuerung im Reformvertrag - sie wird nunmehr ausdrücklich um gleichwertige, andere Ziele ergänzt: Vollbeschäftigung, soziale Marktwirtschaft, Umweltschutz, Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung, Gleichstellung von Männern und Frauen, Solidarität zwischen den Generationen, Schutz der Rechte des Kindes - um einige zu nennen. Natürlich hätte auch ich mir ein MEHR an Klarheit in diesem Themenfeld gewünscht, aber das Erreichte ist nicht gering zu schätzen.

7. Grundrechte

Eine aus meiner Sicht wichtige Errungenschaft der Verhandlungen zum Reformvertrag stellt auch die rechtliche Verbindlichkeit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar. Wenn auch mit dem Wermutstropfen, dass sich einige wenige EU-Mitgliedstaaten Sonderregelungen (Grundrechte nur teilweise anwendbar) ausbedungen haben. Die Charta enthält neben den in der Menschenrechtskonvention verankerten Grund- und Freiheitsrechten auch soziale und ethische Grundrechte und eine Reihe von Bestimmungen, die für die Städte und Gemeinden von Bedeutung sind. Lassen Sie mich einige kurz erwähnen:

  • Laut Präambel der Charta ist die Organisation der Staatsgewalt auf regionaler und lokaler Ebene ein ausdrücklicher Bestandteil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten.
  • Atikel 34 schützt das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten.
  • Und ein Bereich, der mir als Wiener Landeshauptmann besonders am Herzen liegt - die Daseinsvorsorge - wird in Artikel 36 als Grundrecht geschützt.

8. Daseinsvorsorge

Die Leistungen der Daseinsvorsorge sind ein zentrales Instrument der sozialen Integration. Sie zählen zu den Kernaufgaben der Städte, Länder (Regionen) und Gemeinden Europas. Erstmals wird die Bedeutung und der weite Ermessensspielraum der regionalen und kommunalen Behörden auf dem Gebiet der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im 9. Zusatzprotokoll zum Vertrag von Lissabon hervorgehoben. Weitere Kernaussagen sind:

  • Anerkennung der Verschiedenartigkeit der Leistungen der Daseinsvorsorge bedingt durch unterschiedliche geografische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten;
  • Achtung eines hohen Niveaus in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte.
  • Die Bestimmungen der Verträge berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zu erbringen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.

Diese positiven Grundaussagen werden allerdings durch Artikel 14 des Reformvertrages abgeschwächt. Darin wird der EU eine bis dahin nicht bestehende Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Daseinsvorsorge übertragen. Dies birgt die Gefahr, dass die Entscheidungs- und Organisationshoheit der Kommunen eingeschränkt wird. Wir müssen daher sehr wachsam sein, dass diese Kompetenz im Sinne der Länder, Städte und Gemeinden ausgelegt wird.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ja, meinem Herzen wäre das Ergebnis des EU-Konvents näher gestanden. Eine stärkere inhaltliche und organisatorische Klarheit hätte auch ein stärkeres Europa in der Welt bedeutet. Aber auch wenn der Vertrag von Lissabon eine Kompromisslösung darstellt und nicht sämtliche Forderungen der Regionen und Gemeinden erfüllt wurden, so ist er dennoch ein wichtiger Schritt zur Stärkung kommunaler und regionaler Rechte in der europäischen Integration.

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